220 Der Karpathenwinter 1914/15 Da erschien es denn naheliegend, den Hebel in der Gebirgszone anzu¬ setzen und in der kürzesten Richtung auf Przemysl vorzudringen. Ob sich die Heeresleitung der vollen Tragweite des Entschlusses bewußt war, derart große Truppenmassen in den winterlichen Karpathen zum Kampfe vorzuführen, ohne daß für eine entsprechende Ausrüstung ge¬ nügend vorgesorgt worden war und ohne Rücksicht darauf, ob der weit¬ aus größte Teil der Einzelstreiter die körperliche Eignung für diese Auf¬ gabe mitbrachte, bleibe dahingestellt. Bei diesem Verfahren, das offenbar als das einzig mögliche angesehen wurde, hoffte man sicherlich, daß durch einen fließend vorwärtsschreitenden Angriff der Aufenthalt im Ge¬ birge nur von kurzer Dauer sein werde. Als diese Hoffnung jedoch nicht in Erfüllung ging, sich die Folgen des Entschlusses in erschreckender Weise äußerten und die Heeresleitung erkannte, daß der eingeschlagene Weg zum Entsätze von Przemysl nur anscheinend der kürzeste war, sprach vieles dagegen, das Steuer völlig umzustellen. Unerschütterlich hielt der Wille des Feldherrn an dem Unternehmen fest, bis sich diese Ausdauer viel später und erst nach monatelangem Schwanken der Schick¬ salswaage, freilich in ganz anderer Weise, bezahlt machen sollte. Auch der Feind stand im Banne von Przemysl. Dies beweist schla¬ gend eine wenn auch inhaltlich anfechtbare Depesche, die der Gen. Alexe- jew am 15. April 1915 an die Stawka gerichtet hat. Zu dieser Zeit nicht mehr Stabschef Iwanows, sondern Befehlshaber der Nordwestfront, er¬ klärte er, daß eine russische Karpathenoffensive nur insolange berechtigt gewesen sei, als die hinter der Front der 8. Armee gelegene Festung noch nicht bezwungen war1). Brussüow wieder äußerte sich des öfteren unmutig darüber, daß seine Handlungsfreiheit durch die seiner Armee aus der Festung heraus drohende Gefahr behindert sei und rühmte sich später, daß der Fall von Przemysl nur der Ausdauer und dem Opfermute seiner Truppen, insbesondere dem VIII. Korps, zu danken gewesen sei2). Vor dem aufgeschlagenen Buche der Vergangenheit läßt sich un¬ schwer behaupten, daß es auch andere Möglichkeiten gegeben hätte, die Feldzugsentscheidung zu erzwingen, für die die Befreiung von Przemysl nur eine Etappe bilden durfte. Da sich diese Festung mit Rücksicht auf die VerpflegsVorräte bis zum 22. März zu halten vermochte, konnte auch der längere Weg einer großen Umfassung des linken Heeresflügels der Russen eingeschlagen werden, wofür die Armeegruppe Pflanzer-Baltin entsprechend verstärkt werden konnte. Diese hatte die Schrecken des 1) Boncz-Brujewitsch, I, 99. 2) Broussilov, 74, 77ff, 90 und 112.