Gemeindenachrichten • Nr. 383
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Das Bundesministerium für Familien und
Jugend (BMFJ) hat im August 2016 ein
Konzept für einen „Bildungskompass für
den elementarpädagogischen Bildungs-
bereich bis zum Übergang in die
Volksschule” präsentiert. Dieser von der
Bildungsreformkommission vorgeschla-
gene Bildungskompass soll jedes Kind
ab 3,5 Jahren bis zum Ende der Pflicht-
schule begleiten und seine Entwick-
lung, Interessen, Potenziale, Kompe-
tenzen und Ressourcen dokumentieren.
Einmal im Jahr sollten die Kindergarten-
pädagogInnen ihre laufenden Beobach-
tungen über den Entwicklungsstand je-
des Kindes einheitlich anhand eines
Rasters festhalten. Bereits bestehende
Konzepte in den Bundesländern – etwa
Portfolios, Verfahren zur Beobachtung
der Interessen des Kindes oder die ver-
pflichtende Sprachstandsfeststellung –
fließen in den Bildungskompass ein. Der
Bildungskompass soll im Rahmen eines
Gespräches an die Eltern weitergegeben
werden, die diesen wiederum zur Schüle-
rInneneinschreibung mitzunehmen ha-
ben. Gerade am Übergang in die Volks-
schule könnte dieses Instrument eine
wichtige Grundlage individueller und an-
schlussfähiger Bildungsprozesse sein.
Der bundesweite Bildungskompass wird
ab Herbst 2017 im Rahmen einer Pilot-
phase in Oberösterreich erprobt.
Kernstück des vom CBI vorgelegten Bil-
dungskompass-Konzepts ist die Analyse
und Dokumentation der Lernprozesse je-
des Kindes anhand der fünf Lerndisposi-
tionen nach Margaret Carr (2001).
Die neuseeländische Bildungswissen-
schafterin Margaret Carr entwickelte das
Konzept der Bildungs- und Lerngeschich-
Der Bildungskompass kommt
ten oder „learning stories”, das auf der
Beobachtung von Alltagssituationen im
Leben des Kindes aufbaut.
Was brauchen wir zum Lernen?
Margaret Carrs Ausgangspunkt ist die
Überzeugung, dass jedes Kind aus sich
selbst heraus und im Austausch mit dem
Umfeld seine je eigene Welt entwirft. Von
Geburt an ist die Bereitschaft des Kindes
vorhanden, sich alles anzueignen, was
zum Leben benötigt wird. Pädagogische
Fachkräfte versuchen, sich durch Beob-
achtung und Dokumentation den Bil-
dungs- und Lernprozessen zu nähern
und darüber Erzählungen anzufertigen
(„Narrativer = erzählender Zugang”). Zu-
sammengesetzt sind diese Erzählungen
aus Beobachtungen, Beschreibungen
von Tätigkeiten, Diskussionen mit dem
Team, den Eltern und dem Kind selbst. Al-
les wird dokumentiert, um das individu-
elle kindliche Lernen wirksam zu unter-
stützen und weitere Schritte zu planen.
Kind und Eltern sind an der Gestaltung
der Bildungs- und Lerngeschichte des
Kindes ebenso beteiligt wie an deren re-
gelmäßiger Betrachtung und Reflexion.
Dadurch werden weitere Lernprozesse in
Gang gesetzt, vor allem wenn das Kind
erkennt, dass es viele Stärken hat.
Lerndispositionen
Carr unterscheidet fünf Lerndispositio-
nen, also komplexe Orientierungs- und
Handlungsmuster, die wesentlich für die
Aneignung von Wissen und Fertigkeiten
sind.
Nicht primär was, sondern vielmehr wie
gelernt wird, ist dabei von Interesse und
sollte im Team besprochen werden. Um
Lernmöglichkeiten zu erkennen, auszu-
wählen, zusammenzustellen und zu
konstruieren, braucht es Teilhabemög-
lichkeiten (Partizipation) und Hand-
lungsfähigkeiten.
1. Interessiert sein bedeutet, dass sich
ein Kind Dingen, Situationen sowie
Personen aufmerksam und interes-
siert zuwendet und bereit ist, sich da-
mit auseinanderzusetzen. Es ist inter-
essiert, sich selbst eine Aufgabe zu
suchen oder auf Angebote zu
reagieren.
2. Engagiert sein bedeutet, sich Inhalten,
Lernprozessen oder Interaktionen eine
Zeit lang vertieft zu widmen, dabei die
Konzentration aufrecht zu halten und
sich nicht ablenken zu lassen. Enga-
giertheit ist dann zu beobachten,
wenn sich Kinder mit einer Thematik
identifizieren, nach weiteren Informa-
tionen suchen, Neues ausprobieren
und Freude an der Auseinanderset-
zung zeigen.
3. Standhalten bei Herausforderungen
und Schwierigkeiten bezieht sich dar-
auf, eine Tätigkeit trotz Hindernissen
weiterzuführen, Problemlösestrategi-
en zu entwickeln und dabei an die ei-
genen Grenzen zu gehen. Es geht um
konstruktive Erfahrungen mit Fehlern
und Schwierigkeiten (Fehlerkultur)
und um die Bereitschaft, aus diesen zu
lernen sowie gegebenenfalls Hilfe und
Unterstützung zu suchen.
4. Sich ausdrücken und mitteilen kön-
nen bezieht sich auf die sozial-kom-
munikativen Kompetenzen des Kin-
des sowie auf seine Fähigkeiten, mit
anderen (non)verbal zu kommunizie-
ren, um sich auszutauschen.
5. An einer Lerngemeinschaft mitwirken
und Verantwortung übernehmen be-
schreibt die Fähigkeiten, Entscheidun-
gen zu treffen, im Austausch mit an-
deren Pläne und Lösungsstrategien zu
entwickeln, aber auch sich für die Ide-
en anderer zu interessieren (Perspekti-
venwechsel), nach Gemeinsamkeiten
zu suchen und Kompromisse einzuge-
hen. (Vgl. Leu et al. 2007)
aus: Fachjournal UNSERE KINDER 1/17,
Mag.a Martina Stoll, Stv. Wissenschaftliche Leiterin des
Charlotte Bühler Instituts Wien