Volltext: Kriegserlebnisse ostpreußischer Pfarrer 2. Band (2. Band / 1915)

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mittag: Ein hochbetagter Greis erschien bei mir und bat 
um den Kirchenschlüssel. Auf meine erstaunte Frage, wo 
zu er ihn haben wolle, antwortete er: „Ich möchte die 
Nacht in der Kirche zubringen, da ich auch von meiner 
Tochter verlassen und ganz allein bin. In der Kirche 
werden mir die Russen aber nichts tun." Ich riet dem 
guten Alten, sich lieber ruhig in sein Bett zu legen, da 
die Russen einem alten, kränklichen Mann, der im Bette 
liege, wohl kaum etwas zuleide tun würden." Er hat's 
denn auch getan, und die Russen sind ihm und uns ihren 
Besuch schuldig geblieben. Indessen hatte die Furcht vor 
ihnen die Stadt zum großen Teil entvölkert; in den 
Tagen vom 31. August bis 6. September war Liebstadt 
„wüst und leer". Erst dann kehrten die Leute allmählich 
zurück. Wer freilich auf die Bahn angewiesen war, mußte 
sich noch länger gedulden, da der Eisenbahnverkehr durch 
Truppenbeförderungen längere Zeit unterbrochen war. 
Trotz der Abwesenheit der meisten wohlhabenden Ein 
wohner sind aber keine Ausschreitungen vorgekommen, ob 
gleich nur noch ein Teil der städtischen Sicherheitsbeamten 
anwesend war. Die geflüchteten Bewohner des Landes, 
die ihre eigenen Fuhrwerke zur Verfügung hatten und 
nur bis in den Nachbarkreis Pr. Holland geflohen waren, 
kehrten bereits am 1. und 2. September zurück. Der Bet 
gottesdienst am 2. September war deshalb auch den Um 
ständen nach befriedigend besucht. Eine Anzahl von Lieb 
städtern blieb aber der Sicherheit wegen monatelang fort, 
da sie sich die Aufregungen einer etwaigen zweiten Flucht 
ersparen wollten. Wie schnell sich aber die Menschen 
auch an unwillkommene Zustände gewöhnen, zeigte das 
Verhalten der Bevölkerung in den Novembertagen 1914, 
als infolge des erneuten Russeneinbruchs wieder zahlreiche 
Grenzbewohner durch unsere Stadt flüchteten. Jetzt hielt 
man aus, in der festen Zuversicht, daß unsere tapfere 
und opfermutige Grenzwache den Feind nicht weit in 
die Provinz hineinlassen würde.
	        
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