Volltext: Katholische Dichtung

VERLAG JOSEF KÖSEL & FRIEDRICH PUSTET MÜNCHEN 
3i 
LEO W E I S MANTEL: 
DAS VEILCHEN 
In den Tagen des März, wenn wir zum erften Male wieder in diefem Früh 
jahr am Rande des Waldes liegen und uns wohlig ins Gras Recken, dringt 
zuweilen ein seltfam wonniger Duft zu uns. Wir fchauen auf und fehen 
keine Blumen; doch wenn wir dem Dufte nachgehen und mit zarten Händen 
das Gras zerteilen und die Zweige der Büfche heben, fehen wir das kleine, 
blaue Veilchen. 
Ihr wißt, daß es das Blümlein der Demut ift. 
Es brachten eines Tages die Pharifäer und das Volk der Juden zu dem Herrn 
Jefus eine öffentliche Sünderin. Das war ein fchönes Weib, das in all feinem 
Glanz und Reichtum nur bedacht war, die Freuden diefer Erde zu genießen, 
und dann die Gefetze Gottes darüber vergeffen hatte. Sie hatte ihren Gatten 
und ihre Kinder verlaffen, um der häuslichen Pflicht zu entfliehen und nur 
von Feft zu Feft wie ein Schmetterling von Blume zu Blume hinzufchweben, 
und viele andere Männer hatten um ihrer Schönheit willen Eltern und Weib 
verlaßen und hingen ihr an. Da kam viel Leid in die Häufer des Städtchens, 
in dem diefes fchöne Weib, das Maria hieß, lebte. Und die Ratsherren der 
Stadt fingen fie ein und fchleppten fie vor ihr Gericht und fprachen fie der 
öffentlichen Sünde fchuldig und verurteilten fie zum Tode und gaben fie einer 
wilden Menge preis. Die wilde Menge der Straße aber griff das Weib, das 
hinausgeftoßene, mit roher Hand auf und fchleppte es durch alle Gaffen 
hinaus vor die Stadt, um es zu fteinigen. Doch als fie die Stadt verlaffen hatten 
und dem Richtplatz zufchritten, da fahen fie den Herrn Jefus Chriftus über 
das freie* Feld kommen. 
Es hatte aber die fchöne Frau Maria unter den Reichen der Stadt, unter ihren 
Jünglingen und Männern viele Freunde, die jetzt, da fie hörten, in welcher 
Gefahr Maria fchwebe, rafch zu Pferde fliegen und hinausfprengten vor die 
Stadt, um mit Spießen und Schwertern das Volk niederzufchlagen und Maria 
zu befreien. Als das Volk diefe Reiter hinter fich fah und vor fleh auf dem 
Felde den großen Prediger von Nazareth erkannte, da fchleppten fie Maria 
zu Jefus hin und klagten fie an und baten ihn, daß auch er dies Weib zum 
Tode verurteile und das Volk felbft vor den Schwertern und den Spießen der 
Reiter fchütze. Der Herr aber fragte Maria, die Sünderin, ob fie ihre Schuld 
bekenne. Darauf warf fich das Weib zu feinen Füßen und flehte ihn an um 
feinen Schutz. Da fprach der Herr Jefus Chriftus zu ihr: „Vor wem foll ich 
dich fchützen, vor diefen, die dich fteinigen wollen, oder vor jenen, die dich 
zurück in deine Sünden bringen wollen?“ Da fah Maria überrafcht auf und 
fah in feine fragenden Augen: „Schütze mich!“ flehte fie ihn an. „Schütze mich 
vor jenen, die mich befreien wollen!“
	        
Waiting...

Nutzerhinweis

Sehr geehrte Benutzerin, sehr geehrter Benutzer,

aufgrund der aktuellen Entwicklungen in der Webtechnologie, die im Goobi viewer verwendet wird, unterstützt die Software den von Ihnen verwendeten Browser nicht mehr.

Bitte benutzen Sie einen der folgenden Browser, um diese Seite korrekt darstellen zu können.

Vielen Dank für Ihr Verständnis.