Volltext: Kriegs-Kalender für das Jahr 1917 (1917)

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?.Es schwer hält? w mir alten Frau die 
Marie von damals wiederzuerkennen, nicht 
wahr?" sagte sie leise, immer Noch ungläu- 
big den Kopf schüttelnd: „Was gibt es für 
leltsame Zufälle im Leben!" 
seltsam, in der Tat. daß es uns 
nach so langer Zeit wieder zusammenführt! 
Aber ich freue mich. Marie, ich freue mich 
so sehr! Er zog sie neben sich auf die Bank: 
?,Sprich doch — deine Stimme, die habe 
ich gleich wieder erkannt, nur daß ich nicht 
wußte, warum sie mich so vertraut anmutete! 
Sprich, erzähle, wie ging es dir! Herrgott, 
ein Menschenleben liegt ja zwischen uns beiden, 
und nun sitzen wir da wie einst —" 
i,Damals wars Frühling — und wir 
so jung, Gerhardt — so jung!" 
„Ja — und heute ists Herbst — und 
wir —" 
j.Erni,- lauf hinüber auf die Wiese und 
spiele!" sagte die Frau zu dem Kinde, auf 
dessen Gesicht ein verwundertes Staunen sich 
malte. Ganz folgsam wandte es sich ab und 
trippelte hinüber zu dem grünen Rasen, auf 
dem ein leiser Wind raschelnd die dürren 
Blätter hin- und herfegte. 
Ist's dein Enkelkind; Marie, das süße. 
Keine Ding?" 
Sie nickte. 
„Sie hat dein Haar — von damals. 
Aber nun sag. wie kommst du hieher? Du 
kannst ja nicht hier leben, da hätte ich dir 
doch längst begegnen müssen?" 
Ihre blassen, blutleeren Hände strichen 
leicht über das schwarze Kleid: „Ich bin erst 
seit acht Tagen hier — bei meiner Schwie¬ 
gertochter!" 
Heber seine Züge glitt ein ernster Aus¬ 
druck des Verstehens: „Oh> arme Marie, auch 
du mußtest das furchtbare Opfer bringen!" 
Er strich leicht über ihren Arm: ?,Dein Sohn?" 
„Mein Einziger!" 
Etwas in ihrem fast harten Ton be- 
rührte ihn so, daß er zusammenzuckte und 
Jragend in ihr Gesicht starrte, in dem der 
eingeschnittene Mund so leidvoll zuckte: „Ich 
weiß ja nichts vor dir. Marie, nichts von 
deinem Leben!" sagte er fast hilflos. 
„Nein — du weißt nichts!" Wieder klang 
der Ton so herb, fast feindlich. 
„Bist du mir böse> Marie? Du hät- 
test recht, gewiß — aber mein Gott — ich 
war ein junger Kerl damals — ich wollte 
hinauf, heraus aus der Niederung! Außer 
unserer tollen Liebe hatten wir nichts, du 
und ich! Schön war es sicher nicht, daß mich 
da mit einem Male die Angst packte —" 
„Und du davon gingst bei Nacht und 
Nebel? ohne auch nur einmal zurückzuschauen. 
was hinter dir blieb; wieviel Elend und 
Schmerz — nein, schön war es nicht — ab« 
alltäglich, ich weiß!" 
„Wirst du weniger bitter sein. Ntoii«, 
wenn ich dir gestehe, daß ich mich oft g«. 
schämt habe — später —" 
».Als es dir anfing, gut zu gehen? Vor> 
her hattest du Angst vor den Bleigewichten 
die sich an dich hängen könnten, nicht wahr? 
Du siehst, ich habe den Brief noch im Ce> 
dächtnis. den du mir dann schriebst, als bu; 
wie du sagtest, im Hafen gelandet warst!" 
Sie sah hart an ihm vorbei und preßte bit 
Lippen fest zusammen. Er faßte leise nach 
ihrer Hand: „'swar erbärmlich, Marie, iß 
weiß — aber — ändern kann ich's ja heut« 
nimmer! Laß die Vergangenheit ruhen, mir 
sind beide alt geworden! Erzähl mir lieber, 
wie es dir ging? Du hast geheiratet. 
ich hörte, bald darauf —" 
i,Nachdem du davongegangen warst - 
ja — der Werkführer meines Baters, d« 
Pollinger, der mich schon immer lieb hatte, 
der half mir das Schwere tragen, vor dem 
du dich feige davongestohlen hast!" sagte Iii 
und warf mit einem Ruck den Kopf in de» 
Nacken. Cr begegnete wieder dem fast hart« 
Blick der großen, grauen Frauenaugen: „-Der 
Vollinger — er — wie seltsam!" 
„Er war ein treuer, braver Mensch!" 
„Warst du glücklich, Marie?" 
Sie nestelte an einer feinen Kette und 
reichte ihm ein Medaillon hin: >,3ch hatte 
meinen Jungen!" Ihre Stimme brach ich 
ab, sie legte die Hand auf die Augen. 
Seine Blicke hingen an dem Bild des 
bildschönen jungen Menschen> der ihn da mit 
so seltsam vertrauten Augen anlachte, Mit 
Augen, die die seinen waren. .Marie. M 
rie!" rang es sich fast angstvoll von sein« 
bebenden Lippen. Da ließ sie die Hände 
sinken und sah ihn an. sekundenlang, d» 
nickte sie wortlos. 
„Und ich — ging einsam durchs Lebetz 
wußte nichts —" 
„Fragtest nicht, wolltest nichts wissen! 
Es war nicht leicht, mein Leben, Gerhaw 
das mußt du nicht denken! Aber mein 3ttit| 
— er war mir alles, und nun —" 
„Du hast sein Leben besessen, du EM 
liche!" 
>,Ja — und weiß darum auch, was mit 
genommen wurde!" 
„Du hast sein Kind! Ich bin allein of 
blieben, Marie! Gewiß, ich hab's vorwärts 
gebracht, aber ich bin einsam durchs Leb« 
gegangen — und — es ist so bitter, W 
Alleinsein — wenn es Herbst werden M'
	        
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