Volltext: Kriegs-Kalender für das Jahr 1917 (1917)

Eines Tages saßen wir bei Braun im 
behaglichen Wohnzimmer vor dem summen- 
den Samovar. aus dem die grauhaarige Haus- 
frau. der wir jungen Dachse mit herzlicher 
Verehrung zugetan waren, den duftenden Tee 
einschenkte. Auch Rebern kam. Doch er. der 
sonst beherrscht, ja fast ein wenig steif sich 
gab, war diesmal stark erregt und brachte 
von da draußen Kampfeszorn in ihre Stille. 
Ein Staatsrat, so erzählte er uns. war 
zur Revision aus Petersburg nach Taurog- 
gen gekommen. Der hatte auch seine Bücher 
flüchtig durchblättert. 
„Durchblättert, nicht geprüft!" erklärte 
Michael Michaelowitsch voll Erbitterung. Und 
während allen anderen, auch denen, die ganz 
offenkundig stahlen und betrogen, ein Lob 
zuteil ward, hatte ihn der Revisor scharf ge- 
tadelt. 
„Ihre Bücher sind nicht in Ordnung. 
Ich werde in Petersburg berichten müssen, 
daß Sie noch immer anscheinend den gleichen 
umstürzlerischen Bestrebungen huldigen wie 
früher." 
Noch saßen wir beisammen und zerbrachen 
uns die ftörfe über die Unmotivierte Nase, 
die Freund Gebern erhalten hatte, als Braun 
ins Zimmer trat. Frisch und fröhlich wie 
immer begrüßte uns der alte Herr und als 
er erfuhr, was uns die Köpfe warm machte, 
da lachte er sarkastisch auf. 
„Sagen Sie mal, Rebern, haben Sie 
dem Manne auch einen Hundertrubelschein 
oder zwei ins Buch gelegt?" 
Rebem war noch begriffsstutzig. 
„Einen Hundertrubelschein? Wie jpHto 
ich denn dazu kommen?" 
„Aber Kindchen. Sie sind der reine An- 
schuldsengel mit Ihren 25 Jahren. Das W 
hier Landessitte und Brauch. Die Revision 
hat den einzigen Zweck, Hundertrubelscheine 
zu ernten und wenn der Herr Revisor in 
Ihren Büchern keinen fand, so waren sie eben 
nicht Ordnung." 
Ich mußte lachen. 
„Erinnern Sie sich, Rebern, wie Sie «ns 
vor kurzem erzählten, daß Sie immer wieder 
Zehnrubelscheine in Ihren Büchern fänden, 
deren Eigentümer nicht zu ermitteln waren. 
Jetzt ist der Zusammenhang klar: Der Wacht- 
meister erhält einen Bakschisch von 50 Ko- 
peken, bis, wenn's hoch kommt. Dreirubel- 
scheinen: er gibt einen Teil davon in Zehn- 
rubelscheinen den diensttuenden Erenzosfizie- 
ren ab und diese wieder liefern einen Anteil 
in Form von Hundertrubelscheinen an den 
Revisor. Der hat vielleicht noch eine andere 
hohe Exzellenz zu spicken. So wird mein 50- 
Kopekenstück dann hübsch verteilt und ich ge- 
nieße den Vorzug, seiner Exzellenz gleichfalls 
einen bescheidenen Teil meines Ueberflusses 
als Tribut darbringen zu dürfen." 
Damals ahnten wir noch nicht, welche 
tragische Folge der Vorfall haben sollte. W«- 
nige Tage darauf aber hatte sich Michael ». 
Rebern erschossen. 
Was versteht man unter einer Million Soldaten? 
Wir hören zwar oft die Bemerkung, daß 
wir so und soviel« Millionen unserer Landes¬ 
kinder unter den Waffen hätten; aber nur die 
wenigsten dürften sich eine rechte Vorstellung 
davon zu bilden vermögen, was man unter 
einer Million Soldaten zu verstehen hat. Eine 
Million Soldaten, im gebräuchlichen Abstand 
von 75Zentimeter nebeneinander aufgestellt, 
ergäbe eine Front von 750.000 Meter, also 
von 750 Kilometer, eine Länge, die der Ent- 
fernung zwischen Stuttgart und Krakau un- 
gefähr gleichkäme. Einzeln aufeinandergestellt, 
ergäbe eine Million Soldaten eine Menschen- 
säule, deren Höhe die der Kölner Domtürme 
<161 Meter) fast ums zehntausendfache über- 
träfe. Könnte man eine solche Menschensäule, 
deren Fuß z. B. in Berlin stände, in gerader 
Linie umstürzen, so käme der zuoberst Ste- 
hende ungefähr bei Palermo auf der Insel 
Sizilien zu Boden nieder. Eine Million Fuß- 
soldaten in Marschkolonnen, d. h. je 4 Mann 
in einer Reihe, wie man dies am häufigsten 
zu sehen bekommt, stellt einen Menschenstreifen 
von etwa 300 Kilometer Länge dar, dessen 
Vorbeimarsch im gebräuchlichen Militärschritt 
62V, Stunden ohne Unterbrechung erforderte. 
Das Gewicht einer solchen Menschensäule be- 
liefe sich, den Mann mit der Ausrüstung 
zu durchschnittlich 100 Kilo berechnet, auf 
100,000.000 Kilo oder 2 Millionen Zent- 
ner, zu deren Fortschaffung es auf der Eisen- 
bahn 250 Güterzüge von je 40 Doppelwagen 
bedürfte. Sämtliche Güterzüge aneinanderge- 
reiht würden mit den Lokomotiven zusammen 
eine Länge von etwa 35 Kilometer ergeben. 
Rechnet man die Marschfähigkeit des einzel- 
nen Soldaten auf 30 Kilometer täglich, so 
würde eine Million an einem Tage zusammen 
30 Millionen Kilometer, oder eine Entfernung 
gleich der zwischen Erde und Sonne in unge- 
fähr 5 Tagen zurücklegen können.
	        
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