Volltext: Kriegs-Kalender für das Jahr 1917 (1917)

Flucht davonstoben. Mit Mühe hielt ich 
ineine Leute zurück, den Fliehenden zu fol¬ 
gen. da die Gefahr bestand, daß die in eini- 
zer Entfernung nachrückenden Kosaken, sobald 
sie erst unsere geringe Zahl festgestellt hät- 
tat, einen heftigen Angriff machen und uns 
Mach überreiten würden. 
Indes stellte sich bald heraus, daß die 
Feinde wegen des unsicheren, dem Angreifer 
»orzügliche Deckung bietenden Geländes vor- 
pgen, eine Schwenkung zu machen und dem 
Kampfe auszuweichen. Unsere Aufgabe, den 
Waldweg zu schützen und der Munitionsko- 
Kim« fürs erste den Rücken freizuhalten, war 
über Erwarten schnell gelungen. 
Aber der so ereignisvoll begonnene Morgen 
We noch einige und nicht gerade sehr an- 
«mehme Ueberraschungen bringen. Wir er- 
Wen plötzlich Meldung, daß auf der ent- 
Mngesetzten Seite unserer gegenwärtigen 
Stellung, also von Süden her, gleichfalls ruf- 
We Abteilungen, anscheinend regellose Ver- 
iiinde einer versprengten Division, sich im 
Walde gezeigt hätten. 
Ehe wir noch über die Lage ganz im 
Saren sein konnten, tauchten vor den, spä- 
hmd die Lichtungen musternden Fernrohren, 
einzelne Uniformgruppen auf. die einem uns 
unbekannten Ziele zustrebten. Ich muß hier 
pt Verständnis des folgenden bemerken, daß 
die Richtung, in der die feindlichen Kräfte 
sich bewegten, den obenerwähnten Waldweg 
in beinahe rechtem Winkel kreuzte. Es lag 
somit die Gefahr nahe, daß diese Kolonnen 
beim weiteren Verfolgen ihres Marsches mit 
h im Abzüge befindlichen Kosaken zusam- 
«ntreffen und mit ihnen vereint eine bedroh- 
Iche Truppe formieren würden. 
Das mußte um jeden Preis verhindert 
wrden! Aber war bei unseren geringen Kräf- 
tat ein solches Unterfangen nicht von vorn- 
herein aussichtlos? Vielleicht —, indes zu 
langem Besinnen blieb keine Zeit. Die ersten 
tandlichen Streiftruppen mußten uns, trotz 
der vorzüglichen Deckung, in der wir uns 
efanden, bemerkt haben, denn plötzlich pras- 
Wte es sausend durch die Büsche über unseren 
köpfen, daß die Holzsplitter und abgerisse- 
«ftt Zweige nur so herunterhagelten. Der 
Kamerad, der, an meiner Seite im Anschlag 
«egcnb, sich für einen Augenblick aufgerichtet 
Wte, schlug mit einem dumpfen Schrei hin- 
tenübcr; er hatte eine Kugel in die Stirn 
klommen. 
Mich packte eine sinnlose Wut. Den re- 
tllngslos Hingestreckten sehen, aufspringen und 
Witte Leute zum Sturmangriff gegen den 
rufen, war das Werk weniger, blitz- 
»orüberbrausender Sekunden. Ja, wie 
Iii 
soN ich nun das, was folgte, erzählen? Nur. 
wenn alles längst vorüber ist. macht man 
sich einen ungefähren Begriff von den in tol- 
lem Chaos herumwirbelnden Geschehnissen sol¬ 
cher Kampfepisoden. Das erste, dessen ich mich 
erinnere, war der Zusammenprall mit einem 
baumlangen Russen, der mit geschwungenem 
Kolben, brüllend auf mich zustürzte. Ein Schuß 
aus dem Revolver, und er war erledigt. Wie 
Berserker schlugen sich mittlerweile meine Leute 
mit einem ganzen Haufen Feinde herum. Auf 
einmal sah ich, wie einer der Kameraden 
von einer achtfachen Uebermacht umzingelt 
wurde und sich, trotzdem die Kerle von allen 
Seiten auf ihn eindrangen, mit Löwenmut 
zur Wehr setzte. 
Ein Sprung, und ich war an feiner Seite. 
Jeden Baum als Deckung benutzend, wichen 
wir langsam in den Wald zurück. Immer 
ferner tönte der Kampflärm zu uns herüber, 
aber die Russen, die es auf meinen Käme- 
raden und mich abgesehen, ließen nicht locker, 
trotzdem wir durch wohlgezielte Schüsse bereits 
mehrere Feinde kampfunfähig gemacht hatten. 
Schon sah ich den Moment herannahen, wo 
wir, vom Rücken her beschossen, der Ueber- 
macht erliegen mußten, als uns plötzlich un- 
erwartete Hilfe wurde. 
Wie der leibhaftige Gottseibeiuns sprengte 
nämlich in diesem Augenblick ein Reiter quer 
durch den Wald auf uns zu. Mit dem ge¬ 
zwungenen Säbel, in der Linken den feuer- 
prühenden Revolver, glich er einem Traban- 
en des Kriegsgottes in Person. Ich konnte 
noch die roten Hosen und den blauen, gold- 
verschnürten Waffenrock des österreichischen 
Dragoners erkennen und feine schmetternde., 
schneidige Kommandostimme vernehmen — 
dann blitzte es plötzlich in meiner unmittel- 
baren Nähe, und ich verlor die Besinnung. 
Als ich aus der Bewußtlosigkeit erwachte» 
lag ich. den Kopf auf einen Mantel ge- 
bettet, am Rande des Gehölzes, in welchem 
der erbitterte Kampf stattgefunden hatte. Ne- 
ben mir rupfte das Pferd des Dragoners 
die frischen Spitzen der Kräuter vom Wald- 
boden ab. Er selber, mein und meines Ka- 
meraden Retter in höchster Rot. stand zur 
Seite und verband gerade meinen Gefährten, 
der aus einer tüchtigen Fleischwunde an der 
Schulter blutete. 
Als der Dragoner bemerkte, daß ich mich 
bewegte, wandte er sich zu mir und reichte 
mir mit ermunternden Worten die gefüllte 
Feldflasche. Erst jetzt merkte ich, baß ich sel- 
ber den Kopf über und über mit Taschen- 
tüchern verbunden trug, und ein alsbald ein- 
setzender fürchterlicher Schmen t« den Schlä¬ 
fen belehrte mich über die .Schwere der er--
	        
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