Volltext: Kriegs-Kalender für das Jahr.... (1916)

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Ane Echicksalsstunde. 
Skizze von Hans Reis. 
(Nachdruck verboten.) 
SP' 
In Jnterlaken, in dem eleganten Hotel 
am Höheweg. hatte er sie kennen gelernt. 
Sie war ihm sofort aufgefallen durch ihre 
stolz getragene, schlanke Gestalt und die kühn 
blickenden Augen. 
Nie zuvor hatte 
ihn ein Weib vom 
ersten Moment an 
so gefesselt wie 
Nora Morin. Sie 
war eine Deutsch- 
Russin. in Riga ge¬ 
boren. Auch sie 
hatte sich sofort leb¬ 
haft für den statt¬ 
lichen, blonden 
Deutschen, der ihr 
so ritterlich hul¬ 
digte, interessiert. 
Als sie nach Zer¬ 
matt weiterreiste, 
war er ihr gefolgt, 
und drei Tage dar¬ 
auf halten sie sich 
verlobt — ver¬ 
lobt. trotzdem da¬ 
mals schon der po¬ 
litische Horizont 
voll schwarzer Wol¬ 
ken hing. Was 
kümmerte sie der 
alte Hader der Na¬ 
tionen. was Neid 
und Mißgunst, sie 
halten ja sich und 
chre junge Liebe. 
Acht selige Tage 
verlebten sie mit¬ 
einander. Sie mach¬ 
ten zusammen Hoch¬ 
touren, wobei einer 
den anderen an Mut und Unerschrockenheit zu 
übertreffen suchte. 
Dann plötzlich — sein Urlaub war 
eigentlich noch nicht zu Ende — rief 
ihn. den preußischen Generalstabsoffizier. 
MW 
m 
„Du kannst und darfst nicht wieder in deine Heimat 
zurücklehren — nie wieder!" fügte er leidenschaftlich 
hinzu. 
eine Order seines Vorgesetzten wieder nach 
Berlin zurück. Unverzüglich mutzte er ab¬ 
reisen. 
Nora erklärte sich sofort bereit, den Ge¬ 
liebten zu beglei¬ 
ten. Wenn das 
Schlimmste eintraf, 
wenn es wirklich 
Krieg gab. wollten 
sie sich vorher 
trauen lassen. Halb 
im Scherz und 
und halb im Ernst 
halten sie das un¬ 
terwegs im Kupee 
beschlossen. 
In Berlin wurde 
die junge Russin 
von der Mutter des 
Geliebten mit offe¬ 
nen Armen empfan¬ 
gen. trotzdem die 
preußische Generals- 
witwe in betreff der 
Gattin ihres einzi¬ 
gen Sohnes ganz 
andere Wünsche ge¬ 
hegt hatte. 
Auch Erika See¬ 
sen, die liebliche, 
blonde Nichte der 
Generalin, die als 
Vollwaise dauernd 
im Hause der Ver 
wandten lebte, be 
grützte den Vetter 
und die schöne, üp¬ 
pig-schlanke Braut 
mit herzlicher 
Freundlichkeit. Di: 
heißen Tränen., 
ihrem Mädchenstübchen. 
die sie abends in 
weinte, sah niemand. 
Die junge Russin hatte sich die SWäfen 
mit Kölnisch-Wa'iser eingerieben und die dun 
len Haare gelöst. Sie litt an Migräne, da
	        
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