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Ane Echicksalsstunde.
Skizze von Hans Reis.
(Nachdruck verboten.)
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In Jnterlaken, in dem eleganten Hotel
am Höheweg. hatte er sie kennen gelernt.
Sie war ihm sofort aufgefallen durch ihre
stolz getragene, schlanke Gestalt und die kühn
blickenden Augen.
Nie zuvor hatte
ihn ein Weib vom
ersten Moment an
so gefesselt wie
Nora Morin. Sie
war eine Deutsch-
Russin. in Riga ge¬
boren. Auch sie
hatte sich sofort leb¬
haft für den statt¬
lichen, blonden
Deutschen, der ihr
so ritterlich hul¬
digte, interessiert.
Als sie nach Zer¬
matt weiterreiste,
war er ihr gefolgt,
und drei Tage dar¬
auf halten sie sich
verlobt — ver¬
lobt. trotzdem da¬
mals schon der po¬
litische Horizont
voll schwarzer Wol¬
ken hing. Was
kümmerte sie der
alte Hader der Na¬
tionen. was Neid
und Mißgunst, sie
halten ja sich und
chre junge Liebe.
Acht selige Tage
verlebten sie mit¬
einander. Sie mach¬
ten zusammen Hoch¬
touren, wobei einer
den anderen an Mut und Unerschrockenheit zu
übertreffen suchte.
Dann plötzlich — sein Urlaub war
eigentlich noch nicht zu Ende — rief
ihn. den preußischen Generalstabsoffizier.
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„Du kannst und darfst nicht wieder in deine Heimat
zurücklehren — nie wieder!" fügte er leidenschaftlich
hinzu.
eine Order seines Vorgesetzten wieder nach
Berlin zurück. Unverzüglich mutzte er ab¬
reisen.
Nora erklärte sich sofort bereit, den Ge¬
liebten zu beglei¬
ten. Wenn das
Schlimmste eintraf,
wenn es wirklich
Krieg gab. wollten
sie sich vorher
trauen lassen. Halb
im Scherz und
und halb im Ernst
halten sie das un¬
terwegs im Kupee
beschlossen.
In Berlin wurde
die junge Russin
von der Mutter des
Geliebten mit offe¬
nen Armen empfan¬
gen. trotzdem die
preußische Generals-
witwe in betreff der
Gattin ihres einzi¬
gen Sohnes ganz
andere Wünsche ge¬
hegt hatte.
Auch Erika See¬
sen, die liebliche,
blonde Nichte der
Generalin, die als
Vollwaise dauernd
im Hause der Ver
wandten lebte, be
grützte den Vetter
und die schöne, üp¬
pig-schlanke Braut
mit herzlicher
Freundlichkeit. Di:
heißen Tränen.,
ihrem Mädchenstübchen.
die sie abends in
weinte, sah niemand.
Die junge Russin hatte sich die SWäfen
mit Kölnisch-Wa'iser eingerieben und die dun
len Haare gelöst. Sie litt an Migräne, da