Volltext: Kriegs-Kalender für das Jahr.... (1916)

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bern jenem, der vor sechs Tagen die Depe¬ 
sche, dein Todesurteil, raubte- Du hast 
doch davon gehört?" 
„Ja, mein Freund schrieb cs mir: doch 
wieso verdank' ich dem mein Leben?" 
„Weil ich erst vor zwei Tagen von einer 
Neise in die Residenz zurückgekommen bin, 
also an dem Tag. da dein Haupt gefal¬ 
len wäre, wenn die Depesche ihr Ziel er¬ 
reicht hätte." 
„O guter Engel," ruft tief aufatmend 
der Begnadigte aus, „daß ich dich kennen 
würde! Wie wollt' ich es dir lohnen!" 
Bei den letzten Worten tritt der Kerker¬ 
meister ein und verkündet Sir Cochrane seine 
sofortige Entlassung aus dem Gefängnis. 
Man bringt ihm seine Kleider und eine halbe 
Stunde später ist die Zelle leer. 
Die hellen Sterngebilde stehen am hohen 
Himmel und funkeln, als stritten sie uni ihren 
lichten Glanz miteinander um den Vorrang. 
Gräfin Cochrane liegt regungslos auf 
ihrem Lager. An demselben sitzt Sir Co- 
chrane, ihr befreiter Gatte, und an seiner Seite 
sein Vater. Beider Augen ruhten teilnahms¬ 
voll auf der Kranken, die jetzt im Fieber¬ 
traume ihre Hände auszustrecken beginnt und 
in die Schmerzenstlage nusbricht: „Meine Gri- 
zel, mein liebes Kind! Verlaß mich nicht! 
Dein Plan wird nicht gelingen." 
Wieder ist sie still und liegt wie eine 
Leiche vor ihnen. 
„Was sprach sie da von einem Plan?" 
unterbricht der alte Graf das Schweigen. 
Wehmutsvoll schüttelte der Sohn das 
Haupt und drückt es auf die Kissen des 
Bettes nieder: denn er vermag nicht mehr 
länger den Tränenstronr zurückzuhalten. 
Eben hat ein Diener im Gemache die 
schweren.Samtvorhänge an den Fenstern vor¬ 
gezogen und statt dem großen Licht ein klei¬ 
nes Lämpchen angezündet, das seinen roten 
Schein durch das Zimmer wirft, als ein 
zweiter Diener einen Fremden meldet, der 
Sir John Cochrane ganz Wichtiges zn mel¬ 
den habe. 
Dieser hat sein Haupt aus den Kis¬ 
sen erhoben und gibt ein Zeichen, ihn vor¬ 
zulassen. Nach einigen Minuten tritt der 
Fremde ein. Ehrfurchtsvoll legt er die Hand 
an den großen Hut, den er aber, statt ihn 
abzunehmen, nur noch tiefer ins Gesicht zieht, 
greift in das braune Wams, das seinen 
schlanken Körper deckt, und übergibt mit einer 
Verbeugung, doch ohne auch nur einen Gruß 
zu sprechen, dem jungen Grafen einen Brief. 
Schnell ist er geöffnet, da entfällt demsel¬ 
ben ein Schreiben. Der alte Graf, der «, 
den John steht, bückt sich nieder, hebt c* 
auf und liest mit gedämpfter Stimme: „Dch 
Todesurteil, liebster Vater ! Von Dein« 
Erizel." Zitternd erbricht der junge Ech 
das Schreiben, das seine Rechte hält, M 
seine Augen überfliegen sein eigenes Tod«- 
urteil mit des Königs Namen unterzeichnt 
Vater und Sohn starrten auf die — ge- 
raubte Depesche, während des Fremden Blickt 
fast schmerzlich auf der Kranken auf dem La¬ 
ger ruhen. 
„Fremdling," spricht John mit unsichere! 
Stimme, „hast du das Urteil dem König«- 
boten abgenommen?" 
Zustimmend nickt dieser niit dem HauD 
und senkt cs dann noch tiefer. 
„Sag'," fährt hastig und erregt Cochram 
fort, „sag', kennst Du meine liebe Tochich 
Grizel? Bist du von ihr gesandt? L, 
sag' mir! Weißt dn vielleicht, wo sie z«i 
Stunde weilt?" 
„Hier ist sie, lieber Vater, lieber Gro߬ 
papa! Hier ist eure Erizel," ruft jetzt kill 
voll freudiger Erregung der Fremde, reiif] 
seinen Hut vom Haupt und Grizel« dmÄ 
Flechten fließen in voller Schönheit auf bis 
Schultern nieder. 
„Kind." kommt es entzückt aus des 
ters Mund, und er preßt Grizel innig an 
seine Brust. 
Doch kaum hat die glockenhelle Stzim^ 
der guten, heldenhaften Tochter das Echo im 
großen Saals wachgerufen, kaum hat sie bes 
Paters Hals umschlungen, da schlägt p!ö!j< 
lich auf dem Krankenbett die Mutter ihn 
Augen auf und richtet sich mit dem Rufi 
„Grizel, bist du endlich da, ich horte deiß 
Stimme," in die Höhe. 
Grizel reißt sich aus den Armen dK 
Vaters los und ruht im nächsten AugenK 
am Mutterherzen. 
„Hier bin ich, Mutter! Doch nicht 
allein. Hier hast du auch den lieben 
tsr wieder frei von Tod und Strafe 
auch Großpapa will dich begrüßen und dd 
zum heutigen Tag gratulieren. Ja, f«i| 
dich, Mutter, denn mein Plan, dein du du¬ 
nen Segen gabst, ist Gott sei Dank geglückt 
Stille herrscht im ganzen Saal. VM 
Kind und Großpapa liegen, den Blick in 
tränenfeuchte Mutterauge gerichtet, vor, d:> 
Krankenlager auf ihren Knien und auf ihre 
Antlitze widerspiegelte sich des Herzens w' 
große Freude ob der Heldentat, die ein MJ 
für seine Eltern mit kühnem Mut voll¬ 
brachte. —
	        
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