Volltext: Entwicklung des Bolschewismus

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Entwicklung des Bolschewismus 
Moskau Maßnahmen eingeleitet, die mit einer staatskapitalistisch organisierten In¬ 
dustrie schwer zu vereinen sind, aber gerade deshalb besondere Beachtung verdie¬ 
nen. Der oberste Wirtschaftschaftsrat will nämlich die Beteiligung auch des Privat¬ 
kapitals an der Industrie fördern. Das Privatkapital soll durch die Erlaubnis zum 
Bau kleiner Fabrikbetriebe und durch die Verlängerung der Pachtfristen für solche 
Pächter, welche die Produktion gut zu organisieren wissen, angeregt werden. Ferner 
werden den privaten Industriellen günstigere Kreditbedingungen in Aussicht gestellt. 
Um den privaten Unternehmungen vorteilhaft Rohstoffe zu liefern, soll eine eigene 
Aktiengesellschaft begründet werden, an der auch der Staat mit Kapital beteiligt 
ist. Wenn man diese Wege zur Industrialisierung Rußlands ins Auge faßt, so erkennt 
man leicht, wie stark die „Nep“ den wirtschaftlichen Notwendigkeiten Rechnung 
tragen muß, ohne danach zu fragen, ob das ursprüngliche kommunistische Programm 
dabei aufrechterhalten werden kann. Mit großer Offenheit hat der bereits erwähnte 
Volkskommissär Sokolnikow auf dem 14. Kongreß festgestellt, daß die bisherigen 
Mißerfolge der russischen Wirtschaft sich aus der Überschätzung der sozialistischen 
Elemente und der staatlichen Leitung der gesamten Volkswirtschaft ergeben. 
Die großkapitalistische Bauernwirtschaft und die Notwendigkeit zur Industriali¬ 
sierung des Landes müssen dazu führen, dem Privatkapital und dem privaten Unter¬ 
nehmergeist immer größere Bewegungsfreiheit zuzugestehen. Diese beiden Faktoren 
werden für die Entwicklung Rußlands in den nächsten Jahren ausschlaggebend sein. 
Man wird auch die Wechselwirkung verfolgen müssen, die die neue Wirtschaftspolitik 
auf die politische Form des Bolschewismus ausüben wird. Schon jetzt lassen sich 
Anzeichen wahrnehmen, daß in den bolschewistischen Wein mancher Tropfen Wasser 
geflossen ist. Vielleicht die markanteste Erscheinung dieser Art ist die langsam be¬ 
ginnende Abkehr vom Internationalismus. Auf dem Moskauer Kongreß der kom¬ 
munistischen Partei kam das recht deutlich zum Ausdruck. Stalin bekannte sich 
hier zu einem „nationalen Kommunismus" und zu einem Gegner der III. Internatio¬ 
nale, deren Präsident Sinowjew, der Vertreter des orthodoxen „echten" Leninismus 
ist. Die III. Internationale ist dadurch begreiflicherweise in ihrer Aktionskraft ge¬ 
schwächt und in einen Gegensatz zu der offiziellen Parteipolitik geraten. Nirgends 
tritt das auch so augenfällig hervor, als in der Abneigung Stalins, die internationale 
kommunistische Propaganda finanziell zu unterstützen. Nach einem auf dem Kon¬ 
greß gestellten Antrag sollen nämlich die bisher den ausländischen kommunistischen 
Gruppen gewährten Unterstützungen allmählich eingeschränkt und bis 1930 gänz¬ 
lich eingestellt werden. Die kommunistische Welt-Einheitsfront als ideelle Vor¬ 
aussetzung für die Propaganda der III. Internationale ist damit dem Abbau ver¬ 
fallen. Der italienische Kommunist Bordiga, der auf dem Kongreß in offenbarer 
Übereinstimmung mit Stalin — wenn nicht gar in dessen Auftrag — einen scharfen 
Vorstoß gegen den Internationalismus unternahm, vertrat dabei Gedanken, die vom 
Standpunkt des orthodoxen Leninismus aus geradezu als ketzerisch hätten gelten 
müssen. Mit seiner These, daß eine mechanische Übertragung der Taktik des Mos¬ 
kauer Kommunismus der III. Internationale auf die kommunistischen Parteien 
des Auslandes abzulehnen sei, leiteteBordiga eine „Los von Moskau"-Bewegung ein, 
deren Folgen sich als Lockerungdes Zentralismusund der Parteidisziplinzeigen müssen. 
In politischer Hinsicht kann diese Absage an den Internationalismus als wichtig¬ 
stes Ergebnis des Parteikongresses vom Dezember 1925 angesehen werden. Die ortho¬ 
doxe und die revisionistische Richtung haben sich in offener Redeschlacht gemessen, 
die mit einem erdrückenden Siege der nationalen (revisionistischen) Gruppe endete. 
Der Bolschewismus ist nicht mehr der Bronzefels, als den ihn Lenin 1917 der west¬ 
europäischen Welt vorstellte, sondern ein durch innere Parteiungen zersetztes Ge¬ 
bilde. Offiziell wird ja allerdings die Fiktion aufrechterhalten, als sei die „Nep" 
erst die eigentliche Erfüllung des alten und echten Leninismus und Marxismus, aber 
in Wirklichkeit bedeutet die Spaltung auf dem Parteikongreß, um ein Wort Bordigas 
zu gebrauchen, eine interne Revolution oder doch wenigstens eine Palastrevolution. 
Man wird diese Risse im Gebäude des Bolschewismus registrieren, ohne jedoch vor-
	        
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