Volltext: Entwicklung des Bolschewismus

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Der deutsche Erzähler 
scheinen sich wenig an diesem Zwischenspiel beteiligt zu haben; denn an dem entscheidenden 
Abend machten sie auf jedermann den Eindruck sehr überraschter und sofort zur Vermittlung 
bereiter Freunde. 
Auf einer Gesellschaft bei Merveldts kam es im Kreise der Damen zu einer Unterhaltung, die 
anfänglich scherzhaft, bald aber, nach abgefallenen Masken, mit tödlicher Leidenschaft geführt 
wurde. Die Versuche der Frauen, die Kinder voneinander fernzuhalten, waren fehlgeschlagen; 
man mußte im Gegenteil bemerken, daß sie sich häufiger ohne, als vordem mit Wissen der Eltern 
trafen. Der Abend hatte emeut Gelegenheit zur Besprechung des zärtlichen Verhältnisses 
gegeben, indem Ellinor und Arthur — so hießen die beiden — in einer Ecke des Salons in 
eindringlichem Gespräch sich abgesondert hielten. Man hatte seit langem beobachtet, daß Ellinor 
aus einem zarten in einen geradezu krankhaften Gesundheitszustand geraten war und Arthur, 
von Natur leicht entzündbar und erregt, sich in der Verfolgung exaltierter Ideen verzehrte. 
Mütter verzeihen nicht, daß das Leben an ihren Kindem weiter gebiert. Vielleicht haben sie 
recht, eine Schuld darin zu sehen; sicherlich haben sie unrecht, einen Schuldigen dafür zu suchen. 
Die Frauen Merveldt und Maciewska aber griffen einander als Schuldige an. Frau Maciewska 
behauptete, die wachsende Überspanntheit ihres Sohnes sei eine Folge des Verkehrs mit der 
krankhaften Ellinor; Frau von Merveldt machte die übertriebene Gedankenwelt Arthurs dafür 
verantwortlich, daß Ellinor körperlich immer mehr litt und verfiel. Gespräche, die in die Tiefe 
gehen, enden in den Personen; denn der Mensch ist die Tiefe aller Dinge; darum springen 
Gespräche wie das gegenwärtige den Partnern wie Florette ins Herz. Jede der beiden 
Frauen wußte Geheimnisse von der andern; alle die kleinen Vertrauenslosigkeiten und Ängste, 
die der Mutterschaft vorangehen, hatten sie früher einander ausgeliefert. Damals hatten sie 
wechselseitig jede Besorgnis mit Zärtlichkeit empfangen und gestreichelt wie eine kranke Taube, 
um sie schließlich leichtherzig in die Zukunft zu schicken — die Zukunft war Gegenwart, die Tau¬ 
ben waren Geier geworden, und die Geheimnisse hatten scharfe Schnäbel bekommen. Wußte 
nicht jede, was für Bedrückungen und Qualen, was für Lasten und Leiden aus der Reihe der 
Vorfahren hinter der andern standen! Die Maciewska war es, die als erste rief: „Mein Kind 
hat keinen Großvater, der an der Schwindsucht gestorben ist." Dies Wort glich einem Erdrutsch. 
Die beiden Frauen befanden sich plötzlich in einer Erdschicht, die Jahrtausende zurückliegt, 
wo die Frauen ihre Kinder noch durch Dreinsetzung der körperlichen Kräfte verteidigten. Sie 
glaubten, ihre Kinder zu stärken, indem sie die Gesundheit ihrer mütterlichen Leiber voreinander 
rühmten. „Nur die Tochter eines Irrsinnigen wird Beweise dieser Art bevorzugen," antwortete 
die von Merveldt mit zitternden Lippen. Die Maciewska war einer Ohnmacht nahe; aber sie 
hielt sich und erwiderte: „Immerhin hat der Irrsinn ein Ende genommen; aber die Krankheit 
scheint nicht zu Ende zu sein." Sie zeigte hinüber zu Ellinor. Die von Merveldt erhob sich, 
maß die Maciewska und sagte bleich aber sehr gesammelt: „Erinnern Sie sich, Li Anna Ma¬ 
ciewska, wie ich Sie eines Morgens bei einem Wettritt in der Allee fast zu Tode geritten 
hätte — ich reite Sie auch im Leben zu Tode, und wenn es durch Jahrzehnte geht." — „Wir 
werden sehen," antwortete die Maciewska, und dies war das letzte Wort zwischen den Frauen. 
Wieweit der Zwist der Mütter das Verhältnis der Kinder berührte, ist fraglich. Zu endgülti¬ 
gen Auswirkungen des unglücklichen Verhältnisses kam es nicht mehr, indem Ellinor wenige 
Monate nachdem Arthur an die Front abberufen worden war, starb und Arthur selber kurze Zeit 
darauf fiel. Das Ende der Kinder trieb die Mütter nur tiefer und fester in die Stellung, die 
sie an jenem verhängnisvollen Abend zum erstenmal eingenommen hatten. Die Baronin war 
überzeugt, daß Ellinors Leben lediglich an der krankhaften Gefühls- und Geistesrichtung zu¬ 
grunde gegangen war, die Arthur beim Abschied in dem Mädchen hinterließ; die Kommer- 
zienrätin war nicht von dem Glauben abzubringen, daß Arthur sein Leben überdrüssig fort¬ 
geworfen hätte aus Verzweiflung über die in tödlicher Krankheit dahingegangene Geliebte. 
Wenn eine leichtfertige Mutter ihr scharlachkrankes Kind mit dem gesunden Kinde einer anderen 
Mutter spielen läßt und dieses stirbt an der Ansteckung: der Vorwurf des Mordes kann nicht
	        
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