Volltext: Entwicklung des Bolschewismus

Anmerkungen zu einer russischen Reise 
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die Georgier, die Turktataren Aserbeidschans, die Turkmenen, die Sarten, die Kir¬ 
gisen, die Armenier — sie alle fühlen sich, trotz der auch ihnen meist unsympathi¬ 
schen bolschewistischen Revolution, Moskau für die Nationalitätenpolitik verbunden. 
Es ist nicht damit getan, die Bolschewiki für ihre aufrührerische Propaganda in 
Asien zu schelten; die beste Propaganda haben sie mit ihrer Nationalitätenpolitik 
gemacht, die in einem krassen, für die Bolschewiki durchaus günstigen Gegensatz zur 
Unterdrückungspolitik der großen Mächte steht. Die Bolschewiki haben sich hier als 
bessere Psychologen erwiesen als die Staatsmänner in London, Paris und Rom. 
Die Tendenzen der bolschewistischen Wirtschaft 
Die Bolschewiki unter Führung Lenins waren der Ansicht, daß sich der sozialisti¬ 
sche Staat nur aufbauen lasse, nachdem der alte kapitalistische völlig zerstört und 
atomisiert sei. Sie haben das in den Jahren von 1917 bis 1921 getan. Außer den Fa¬ 
brikmauern und einem Teil der Maschinen ist kaum etwas stehen geblieben. Die 
Fabrikherren, die Kaufleute, die Ingenieure wurden getötet, vertrieben, abgesetzt. 
Als die Bürgerkriegszeit vorüber war und die Macht des Regimes gefestigt, war die 
nationale industrielle Produktion auf etwa 10% des Vorkriegsstandes gesunken. Wenn 
die Bolschewiki daher bei der Arbeiterschaft des Auslandes mit ihren riesigen Pro¬ 
zentzahlen über die wirtschaftlichen Fortschritte des kommunistischen Staates hau¬ 
sieren gehen, so verschweigen sie, daß diese Zahlen auf dem Tiefstand des Jahres 
1920 aufbauen, den sie selbst herbeigeführt hatten. Man kann vielleicht sagen, 
daß die industrielle russische Produktion im ganzen heute 50% des Vorkriegsstandes 
erreicht hat. Wenn sie ehrlich wären, müßten die kommunistischen Propagandisten 
überdies gestehen, daß die industrielle Entwicklung Rußlands schon vor dem Kriege 
bescheiden war, den ungeheuren Naturschätzen und Volkskräften des Landes in keiner 
Weise entsprach. Erst in den letzten zwanzig Jahren vor dem Kriege hat die industrielle 
Entwicklung Rußlands eingesetzt, genährt von den französischen Rüstungsmilliarden. 
Das, was heute in Rußland wieder erreicht worden ist, ist nahezu von selbst, ohne 
besondere Leistungen, wieder emporgewachsen, nachdem man die Kriege beendet 
hatte und die russische Erde wieder atmen ließ. Denn was im Einzelnen an bolsche¬ 
wistischen Wirtschaftsleistungen zu sehen ist, ist, abgesehen von der mit Energie 
durchgeführten Elektrifikation, zum größten Teil so dilettantisch und unpraktisch 
wie nur irgend möglich. Der ungünstige Eindruck, den die heutige Art der Bolsche¬ 
wiki, wirtschaftliche Unternehmungen aufzuziehen, macht, wird jedoch schon 
binnen weniger Jahre einem besseren weichen, denn mehr und mehr geben sie dem 
Druck der Warennot nach und bemühen sich, unter tapferem Verzicht auf kommu¬ 
nistisch-theoretische Prinzipien, die Produktion vorwärts zu treiben. Wenn auch 
noch keine Beweise für die Wiederzulassung privater industrieller Unternehmer 
vorhanden sind (die gesetzmäßig wieder möglich ist), so vermehren sich doch die 
kapitalistischen Arbeitsmethoden in den Staatsbetrieben. Der angeborenen Faulheit 
des russischen Arbeiters und seiner geringen Arbeitsintensität wird jetzt mit Mitteln 
begegnet, die nicht marxistisch,sondern amerikanisch sind: Akkordlohn und Gewinn¬ 
beteiligung für die Arbeiter, hohe Gehälter und Prämien aller Art für die Vorarbeiter, 
Techniker und Ingenieure. Alle intelligenten Kräfte des Landes werden heute wieder 
gesammelt und angestellt, nachdem die Bolschewiki erfahren haben, daß prole¬ 
tarische Gesinnung der Produktion nicht förderlich, häufig aber hinderlich ist. 
Gewiß stehen noch heute an der Spitze der Betriebe ,,rote Direktoren", d. h. ehemalige 
Arbeiter und Parteimitglieder, aber ihnen zur Seite stehen bereits überall die ,,weißen 
Direktoren", meist gelernte alte Ingenieure. Der ,,Spez", das ist der Spezialist, ist 
eine der bedeutendsten Persönlichkeiten im Sowjetreich geworden, wobei das Speziali¬ 
stentum meistens schon beim gelernten Arbeiter beginnt. Die „Speze" beziehen 
Gehälter und Löhne, die selbst nach unseren Begriffen ansehnlich sind, im Gegensatz 
zu den Löhnen der gewöhnlichen Arbeiter, die immer noch stark hinter unseren Ar¬ 
beitslöhnen zurückstehen — absolut und in bezug auf die Kaufkraft! In die Staats-
	        
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