Volltext: Entwicklung des Bolschewismus

Anmerkungen zu einer russischen Reise 
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Wege weitergegangen werden. Die Bolschewiki haben, entgegen ihrer sonstigen Ge¬ 
pflogenheit der Schönfärberei, offen bekannt, daß sie selbst den Mißerfolg der neuen 
Dorfpolitik verschuldet haben: weil es ihnen nicht gelang, die Staatsindustrie genü¬ 
gend leistungsfähig zu machen, um den bäuerlichen Warenhunger zu befriedigen. 
Die Reste der alten städtischen Bourgeoisie, die im Gegensatz zu ausländischen 
Ansichten in Rußland noch beträchtlich sind, bilden keine Gefahr mehr für den Be¬ 
stand des Regimes. Der russische Bürger der alten Zeit ist in achtjähriger Verfolgung 
mürbe geworden. Man kann nicht jahrzehntelang nur trauern und Trübsal blasen. 
Der russische Bourgeois von ehemals ist heute im Durchschnitt froh, wenn ihn der 
Staat an einer seiner zahllosen Futterkrippen mitessen läßt. Freilich gibt es noch 
Leute, die leise auf einen raschen Sturz des Regiments hoffen, aber selbst diese 
wenigen denken dabei nur an ein Eingreifen von auswärtigen Mächten. Die große 
Masse der alten Intelligenz ist der Ansicht, daß eine langsame Entwicklung des Räte¬ 
staates zu liberaleren wirtschaftlichen und politischen Methoden und Einrichtungen 
das Wahrscheinlichste sein wird. 
Das Institut der Tscheka (Tschreswitschainaja kommissia — Außerordentliche 
Kommission) ist eine Einrichtung aus der Zarenzeit, der Ochrana (— Schutz) 
nachgebildet und wie diese eine politische Geheimpolizei. Während aber die Ochrana 
keine eigene Gerichtsbarkeit besaß, ist die Tscheka befugt, selbst Urteile zu fällen 
und zu vollstrecken, allerdings nur zwei Arten von Urteilen: Todesstrafe und Depor¬ 
tation. Diese Beschränkung ist jedoch belanglos, da die Tscheka, wenn sie ihr Opfer 
nicht gerade verschicken oder erschießen will, es beliebig lange in „Untersuchungs¬ 
haft" behält. Die Tscheka macht keinen Versuch, aus ihrer Hauptaufgabe, der Ein¬ 
schüchterung des Volkes, ein Hehl zu machen, im Gegenteil: ihre Methoden sind sorg¬ 
fältig und bewußt auf Terrorisierung abgestellt. So verhaftet sie z. B. nur selten 
öffentlich, d. h. in der Familie oder im Beisein von anderen Leuten, sondern verfolgt 
ihr Opfer im geheimen, bis sie es in irgendeinem Straßenwinkel einmal allein antrifft. 
Den Angehörigen der Verhafteten wird in der Regel keine Mitteilung von der Ver¬ 
haftung gemacht und auf Anfrage, ob eine Verhaftung erfolgt sei, auch keine Auskunft 
erteilt. Gründe für die Verhaftung werden häufig nicht einmal dem Verhafteten 
selbst angegeben. Wenn man die Tscheka mit der mittelalterlichen Inquisition ver¬ 
glichen hat, so tut man der letzteren unrecht: denn die Inquisitoren waren gehalten, 
ihre Häftlinge vor ein, wenn auch geheimes Tribunal zu stellen. Die Tscheka hat 
das nicht nötig. Sie hat weder ein Gerichtsverfahren noch teilt sie den Verurteilten 
Urteil und Begründung mit. Im Tschekagefängnis an der Lubianka in Moskau ist 
es z. B. so, daß der heimlich bereits Verurteilte aus der Zelle herausgeholt wird mit 
der Begründung, er solle wieder verhört werden. Er muß vorausgehen und bekommt 
Weisung, in den oder jenen Raum einzutreten. In dem Augenblick, in dem er die 
Schwelle des Raumes überschreitet, wird er von hinten mit dem Revolver erschossen. 
Da diese Darstellung von verschiedenen Leuten in gleicher Form gegeben wird, kann 
man an ihrer Richtigkeit nicht gut zweifeln. 
Der terroristische Zweck der Tscheka wird, wie jeder Rußlandreisende bestätigen 
kann, erreicht. Es gibt kein Wort der russischen Sprache, das eine gleich faszinierende 
Wirkung auf den russischen Staatsbürger hat wie das Wort Tscheka. Sie ist die 
Macht, die Tag und Nacht ihren unsichtbaren, fürchterlichen Arm über ihn hält 
und jede Regung der Opposition im hintersten Winkel seiner Seele zurückhält. 
Nichts hat so zur Demoralisierung des russischen Volkes beigetragen wie die Tscheka, 
weil diese nicht nur jeden Einzelnen bedroht, sondern ihn zwingt, seine Freunde und 
Verwandten durch Aussagen zu gefährden. Dieses System hat die von Natur schon 
mißtrauischen Russen zur Unaufrichtigkeit und Gewissenlosigkeit erzogen. 
Die sich langsam mehrenden Gerüchte über Konflikte zwischen der Tscheka und 
dem Rat der Volkskommissare und die allgemeine Entwicklungstendenz zur Mäßigung 
lassen hoffen, daß auch die Methoden der Tscheka mit der Zeit abgemildert werden. 
Ihren Namen, der im Auslande einen allzu schlechten Klang bekommen hat, hat sie 
bereits seit längerer Zeit in „G.P.U." verwandelt (Gosudarstwennoe Polititscheskoe
	        
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