Volltext: Entwicklung des Bolschewismus

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Entwicklung des Bolschewismus 
und elastisch, seinen kleineren Nachfolgern auf lange hinaus eine Stütze bieten konnte. 
(Auch Bismarcks europäische Konstruktion ist nicht unmittelbar nach seinem 
Tode zusammengebrochen.) 
Man kann vielleicht sagen, daß, schematisch betrachtet, an Lenins Stelle das Neun- 
Männer-Komitee, das Politbureau, getreten ist und daß dieses seine Aufgabe 
lediglich darin sieht, den Leninismus zu interpretieren. Der zeitweilige Hader im 
Politbureau, der vor einem Jahre zur Ausschaltung Trotzkis und jetzt zu der Sinow- 
jews geführt hat, ist bisher weniger ein Kampf um die Macht als ein ängstlicher Streit 
darüber gewesen, was Lenin in der oder jener Lage des Regimes getan hätte. 
Sowjetrußland ist ein Klassenstaat. Die Führerklasse haben wir zu skizzieren 
versucht. Sie ist nicht identisch mit der kommunistischen Partei, der tatsächlichen 
Trägerin der Staatsgewalt. So klein die Zahl der eingeschriebenen Parteimitglieder 
auch ist (etwa 500000), so ist es doch nicht so, daß alle russischen Kommunisten 
auch nur den Einfluß auf Gesetzgebung und Regierung ausübten wie jeder simple 
Wähler eines demokratischen Landes. Wohl wird die Führerschaft auch hier von 
unten herauf gewählt, d. h. die einzelnen Parteizellen in den Betrieben und in den 
Gemeinden wählen ihren Ausschuß, diese Ausschüsse die Gouvernementausschüsse 
usw. bis zum Zentral-Exekutiv-Komitee in Moskau hinauf, aber in Wirklichkeit 
werden die Kandidatenlisten doch meist von den oberen Parteiinstanzen den nächst 
unteren vorgeschlagen, so daß es kaum möglich ist, Leute an die Spitze hinauf zu 
wählen, die dem Politbureau nicht passen. Wir haben gerade in den letzten Monaten, 
bei der Abhalfterung Sinowjews, gesehen, daß die Zentralgewalten der Partei un¬ 
gebärdige Provinzorganisationen mit derben Worten oder durch Maßregelung ihrer 
Führer zur Raison zwingen oder sie auflösen, wie es mit verschiedenen Jugend¬ 
organisationen der Partei Anfang Februar 1926 geschehen ist. Es gibt also nicht ein¬ 
mal innerhalb der bolschewistischen Partei etwas wie eine Demokratie. 
Abhängiger aber noch als die Masse der russischen Kommunisten sind die Arbeiter 
und Bauern, die formellen Träger der Staatsgewalt. Weder in der russischen Ver¬ 
fassung noch in irgendeinem Gesetz gibt es eine bolschewistische Partei. Die von 
Arbeitern und Bauern gewählten Räte sind die angeblichen Herrscher des Landes. 
Hier ist sogar schon das Wahlsystem komisch. Nicht nur, daß es ebenso wie die Wahl¬ 
ordnung der Partei Instanz für Instanz wählt, so daß die Urwähler, d. h. das ar¬ 
beitende Volk, auf die Auswahl der Staatsführer überhaupt keinen Einfluß mehr 
haben; es ist sogar so, daß die Stimmen der Urwähler verschieden bewertet werden: 
die städtischen Stimmen zählen fünfmal so viel wie die ländlichen; die Arbeiter wer¬ 
den also fünfmal so hoch bewertet wie die Bauern. Hier zeigt sich schon rein äußer¬ 
lich, wie hohl die Phrase von der „Arbeiter-Bauern-Republik“ ist. Wenn die Arbeiter 
schließlich noch das Gefühl haben können, daß der Sowjetstaat ihr Staat ist, da er 
sich bemüht, ihnen in erster Linie seine Erfolge zugute kommen zu lassen, so ist 
das keineswegs bei den Bauern der Fall. Der bolschewistische Staat hat in den ab¬ 
gelaufenen acht Jahren seines Bestandes nicht nur nicht für die Bauern gelebt, son¬ 
dern er hat von ihnen gelebt, auf ihre Kosten, von ihrem Schweiße. Der russische 
Bauer war bisher die Melkkuh des Bolschewismus, und es scheint, daß er sich dessen 
bewußt ist. Die Bauernfragen sind es denn auch, die dem heutigen Sowjetrußland 
die größten Sorgen bereiten, und die Führer scheinen vor einem Jahre zu der Einsicht 
gekommen zu sein, daß ein Weiterarbeiten auf der bisherigen bauernausbeuterischen 
Grundlage unmöglich geworden ist. In Erkenntnis dieser Lage hat Moskau im Früh¬ 
jahr 1925 den größten Sprung seit Beginn der Revolution gemacht: es hat „das Dorf 
entfesselt", d. h. den Steuerdruck gemildert, die Zwangseintreibung der Ackerfrüchte 
eingestellt, den bäuerlichen Privathandel erlaubt und das Wahlrecht etwas gemil¬ 
dert, um nur einige dieser folgenschweren Maßnahmen zu nennen. Daß diese libera¬ 
lere Bauernpolitik es nicht vermocht hat, im Erntejahr 1925 die Bauern zu willigeren 
Mitarbeitern am Roten Staate zu gewinnen, daß die Bauern ihr Getreide gar nicht oder 
nur zu Preisen hergaben, die eine Ausfuhr unmöglich machten, das ist ein furcht¬ 
barer Schlag für Moskau gewesen. Trotz dieser Enttäuschungen soll auf dem neuen 
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