Volltext: Entwicklung des Bolschewismus

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Entwicklung des Bolschewismus 
Moskau zu übernehmen und eine kommunistische Wirtschaftspolitik zu betreiben, 
dafür bestehen zur Zeit keinerlei sichere Anzeichen. Wohl aber läßt der unverkennbar 
hervortretende nationale Einschlag in der ganzen chinesischen Bewegung darauf 
schließen, daß der Kommunismus der III. Internationale in China auf denselben 
Widerstand stoßen wird, wie er bereits jetzt in Rußland selbst in der „Los von 
Moskau“-Bewegung erkennbar geworden ist. 
Anmerkungen zu einer russischen Reise 
Man kann heute kaum mehr behaupten, daß über die Zustände in der Sowjetunion 
zu wenige Berichte von Augenzeugen vorlägen. Eine ganze Reihe von Publi¬ 
zisten aller möglichen Länder und der verschiedensten politischen Anschauungen 
ist in den letzten Jahren in Rußland gewesen. Wenn wir uns trotzdem in der Beurtei¬ 
lung Sowjetrußlands und der Möglichkeiten, mit diesem Lande Verkehr irgend¬ 
welcher Art zu treiben, noch so unsicher fühlen, wenn uns das Wort Sowjet-Rußland 
immer noch kein so klares Bild vor das Auge ruft wie der Name jedes anderen Lan¬ 
des, so liegt das an den Widersprüchen, die die einzelnen Rußlandschilderer von¬ 
einander trennen. Leute, die lange im neuen Rußland leben, bestätigen, daß die jour¬ 
nalistischen Rußlandreisenden regelmäßig einer Fülle von Irrtümern unterlegen sind. 
Besonders deshalb, weil sie nicht lange genug in Rußland waren, oder weil sie das 
Land nur unter bolschewistischer Führung gesehen haben. 
Der Ausländer, der geladen mit einer Fülle von antibolschewistischen Übertreibun¬ 
gen, z. B. die Stadt Moskau betritt und sich an den Anblick der äußeren Schäden 
gewöhnt hat, fällt dann von einem Staunen ins andere, wenn er den riesigen Verkehr 
der Stadt, der nur mit dem der Londoner City vergleichbar ist, wenn er die Massen 
von Straßenbahnen, die zahlreichen sauberen Autobusse und die zahllosen Droschken 
dahinfluten sieht. Besucht er dann noch die großen Amtspaläste, die ausgezeichneten 
Theater und Konzerte, die eine oder die andere Musterfabrik, fährt er im eleganten 
und billigen internationalen Schlafwagen tagelang durch das Land, durchwandert er 
eine der zahlreichen Ausstellungen oder eines der prächtigen Museen, dann schmelzen 
seine Vorurteile wie Eis an der Sonne. Von allen möglichen Leuten, die alles weniger 
denn bolschewistenfreundlich waren, haben wir völlig verzerrte, und zwar meist viel 
zu günstige Urteile über den Bolschewismus und seinen Staat gelesen und gehört. 
Man sage nicht, den Verführungen einer zu kurzen Rußlandreise könne nur ein Un¬ 
gebildeter zum Opfer fallen; es sind nicht nur die Mitglieder der internationalen 
Arbeiterdelegation gewesen, die sich narren ließen: die europäischen und amerika¬ 
nischen Gelehrten, die am zweihundertjährigen Jubiläum der Petersburger Akademie 
im vorigen Sommer teilgenommen haben, haben sich um kein Haar besser bewährt! 
Es ist einem großen Teil von ihnen völlig entgangen, daß ein Staatswesen sehr wohl 
300 ausländische Professoren 8 Tage lang fürstlich bewirten kann und daß es dabei 
trotzdem nicht in Glück und Wohlstand zu schwelgen braucht. Um es kurz zu ma¬ 
chen: Es gibt nichts Schädlicheres für unsere Kenntnis über den neuen Osten, als 
wenn wir uns von jemand etwas erzählen lassen, der vier Wochen in Moskau oder 
in Leningrad gewesen ist. Da ist es viel nützlicher, sich eine bolschewistische Zei¬ 
tung, z. B. die Iwestija, zu abonnieren, denn in diesen Zeitungen, die die Selbstkritik 
des Systems eifrig pflegen, ist für den, der zwischen ihren Zeilen zu lesen gelernt hat, 
sehr viel Wahrheit zu finden. 
Wer jedoch selbst etwas wenigstens für den Tag Gültiges, über Sowjetrußland 
sagen will, muß mindestens ein Jahr in diesem Lande reisen, muß nicht nur die Haupt¬ 
städte sondern auch das flache Land und die entlegene Provinz aufsuchen; er muß 
vor allem den Westen vergessen und sich in den so wesensverschiedenen Osten ein¬ 
fühlen. Wenn er dann mit gewissenhafter Kühle und strenger Selbstkritik zu Urteilen 
kommt, wird er sich vor Verallgemeinerungen hüten und sich bewußt sein, daß er für 
die Zukunft unbedingt Gültiges auch unter diesen Voraussetzungen nicht gesagt hat.
	        
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