Volltext: Oö. landwirtschaftlicher Kalender 1923 (1923)

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MW MM uni Sitte der Aiuiut! 
(Mit Abbildung.) 
In den letzten Jahrzehnten haben gewaltige Ereignisse tiefgehende 
^Änderungen in das Leben der Städte, der Dörfer und selbst in die 
^„stillsten Winkel gebracht. Die Eisenbahnen, die rastlose Industrie, die damit 
„^zusammenhängende Ausnutzung von Grund und Gärten und Wasser, das 
M rasche Wachstum der Ttädte und das so ganz veränderte Straßenbild, überall 
,,j,bie rechnende Klugheit, wirkten beeinflussend auf Landschaft und Menschen, 
r l Sie überfluteten die heimatliche Eigenart mit der meist alles bezwingenden 
d Zeitmode, so daß die schöne Ursprünglichkeit überall zur Seltenheit geworden 
ahxMd so unsere Heimat mit ihren trauten Wahrzeichen oftmals eine be 
klagenswerte Veränderung und ein fremdes Gepräge erhalten hat. 
| Vor den Toren der Städte und Märkte verschwanden von Jahr zu 
^,Jahr die schönen, alten Feldwege und die uralten Alleen, mit ihnen lieder- 
,g t( frohe Singvögel, die in den versteckten Rissen genistet haben. Der Bach, 
Aji einst quellklar, verläßt nun schmutzig und in mancherlei Farben schillernd 
'bk Fabriken und immer weiter und kleiner liegt der Wald mit seinen 
verborgenen Reizen, der uns einst mit seinem reinen Frieden umfing. 
. | Und wie das äußere Straßenbild, so unterwarfen sich auch willig die 
.^Menschen der Zeit. 
,J Aus den behaglich eingerichteten Stuben wurde ohne Zandern und 
J Überlegung der alte, mit Anhänglichkeit gepflegte, anspruchlose aber kunst- 
n| | handwerklich meist hochstehende Hausrat einem Winkel übergeben oder dem 
Hausierer verkauft. Dann nahmen von den Wänden die Familienbilder, 
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alte Erinnerungen mit beredter Sprache, welche lange Geltung hatten, 
mit tief verwunderten Blicken Abschied und ebenso von einem Ecktischchen 
bas Stammbuch, auf dessen goldgeränderte Blätter so mancher Freund 
und Gast gelegentlich ein sinniges Sprüchlein geschrieben hatte. Ohne 
Zögern wurde den Gewohnheiten nach fremdem Zuschnitt, der liederlichen 
und schlechten Arbeit, der geschminkten Höflichkeit die Türe geöffnet, denn 
nur zu leicht ist die große Menge gewillt, das nachzuahmen, was ihr von 
den in der Gesellschaft führenden Personen unmittelbar oder mittelbar 
vorgeführt wird. Damit aber schwanden bedauerlicherweise auch die ruhige 
Heiterkeit, die Freude an liebenswürdigen Harmlosigkeiten, die gemütlichen 
Stunden mit dem feierlichen Bedacht, der sittliche Ernst früherer Tage. 
Ein neues Leben und ein neuer Mensch setzten sich zurecht. 
Wohl langsamer, aber ebenso sicher griff die Zeit in das sonst schwer 
von ehrwürdiger Überlieferung abzubringende schwerfälligere Land. Sie 
unterwühlte die heimatliche, sinnvolle und wunderreiche Sitte, die Eigenart 
in Bau und Kleidung, die leider meistenorts zu wenig beachtete und ge 
schätzte Volkskunst, die biedere, kunstvolle Arbeit deutschen Handwerkes, die 
Freude an ureigenem Lied und Tanz. So kommt allmählich das Volk um 
seine Vergangenheit und fühlt nach und nach die sich dahinschleppende 
Leere. Auch diese neben anderen Ursachen drängt die Leute nach der Stadt, 
als hielte es das Leben da besser. Sie fliehen das öd und inhaltlos ge 
wordene Land und in der Stadt wandten sie sich von ihrer Lebensweise
	        
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