Volltext: Oö. landwirtschaftlicher Kalender 1913 (1913)

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den Trustmännern von heute die alte anierikauische Romantik, die besonders 
im wilden Westen heimisch war, aber sehr bald ganz verschwunden sein wird. 
Henry F. Urban, „Serajewoer Tagbl.". 
Die zerrissene Schleppe. 
Ein sehr elegant gekleidetes Ehepaar passierte die Hauptstraße einer 
südrussischen Stadt. Der Herr galt als einer der reichsten Kaufleute des 
Ortes und seine Frau trug auch den Reichtum ihres Galten gebührend 
zur Schau; die Schleppe ihres Prachtkleides fegte den Fußsteig entlang. 
Da kommt ein junger Leutnant von den Dragonern eilig aus seiner 
Wohnung und schlägt die Richtung nach der Kaserne ein. Aus dem Fenster 
des Hauses gegenüber grüßt ein hübscher Mädchenkopf; der Offizier salutiert, 
entzückt nach oben blickend — und im selben Augenblicke, rrratsch, zerreißt 
einer seiner Sporen das Kleid der Kaufmannsfrau. 
„Ich bitte tausendmal um Vergebung, meine Gnädige!" ruft bestürzt 
der Jüngling. „Ich bin untröstlich über den angerichteten Schaden, hoffent 
lich läßt sich derselbe wieder gutmachen." 
„Nicht doch, mein Herr!" schreit die Kaufmannsfrau. „Die Schleppe 
ist vernichtet, das Kleid ist ruiniert." 
„Sie müssen den Schaden ersetzen," fügt der Gemahl hinzu. 
„Das werde ich," versicherte der Leutnant, „hier meine Adresse," 
und er zog sein Kartentäschchen hervor; indessen war das präsentierte 
Blättchen von dem Kaufmann zurückgewiesen, welcher ärgerlich sagte: 
„Erst bezahlen Sie, eher lassen wir Sie nicht fort." 
„Aber ich bitte Sie, der Dienst ruft mich. Wenn ich zu spät komme, 
trifft mich eine strenge Strafe. Wieviel beträgt denn der Schaden?" 
„Das Kleid $ neu," sprach die Dame, „ich trage es zum ersten 
mal und muß daher seinen vollen Preis, zweihundert Rubel, verlangen." 
„Zweihundert Rubel!" rief entsetzt der Kriegsmann. „Mein Jahres 
gehalt beträgt kaum so viel." 
Schon hatte sich ein Kreis von Umstehenden gebildet, welche dem 
Gespräche zuhörten. 
„So muß ich verlangen, daß Sie sich mit uns zum Polizeirichter 
begeben," meinte die Dame. 
„Aber Sie bringen mich in die größte Verlegenheit," flehte der un 
glückliche Dragoner. 
Man parlamentarisierte noch ein weniges, aber die Dame blieb uner 
bittlich und drohte mit Verhaftung; der Leutnant mußte den Weg zum 
Gerichtssaal antreten. 
Der Richter entschied kurz und bündig: „Der Leutnant muß zahlen 
oder in Schuldhaft wandern." 
„Sofort zahlen ist mir unmöglich," versicherte der Leutnant, „und 
ist der Preis nicht ein sehr hoher?" 
„Jeder kann den Preis für sein Eigentum bestimmen," sprach der 
Richter, „doch kann ich den Klägern raten, menschlich zu handeln und 
den Offizier nicht unglücklich zu machen."
	        
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