Volltext: Oö. landwirtschaftlicher Kalender 1902 (1902)

Pfiffigkeit der Bauern. 
Aus einem Orte in der Umgebung von Dresden wird folgendes Stücklein ge 
schrieben, das die bekannte Redensart von der Dummheit der Bauern wieder einmal 
zunichte macht. War da in einer Gemeinde ein Schulcassensübrer, von dem man 
munkelte, daß in seiner Casse nicht alles in Ordnung sein sollte. Man sprach sogar 
von einem Deficit von 600 M. Unter anderen Verhältnissen würde man einfach eine 
Cassenrevifion vorgenommen, den ungetreuen Beamten abgesetzt und der gerechten Be 
strafung überliefert haben. Allein so dumm ist der Bauer nicht. Was hatte er doch 
davon, wenn der betreffende Beamte ein paar Monate hinter Schloß und Riegel zu 
bringen mußte und das Geld wäre verloren. Ihm kommt es vor allem auf das Geld 
an. Man hält also eine Sitzung und beschließt, eine Cassenrevifion vorzunehmen, gibt 
aber unter der Hand dem Cassierer zu verstehen, daß seine Casse in Schuß sei, in etwa 
vierzehn Tagen würden sie einmal Revision halten. Nun bekommt der ungetreue 
Cassierer Angst, er geht zu Pontius und Pilatus, sich die 600 M. zusammenzuborgen, 
und als er in vierzehn Tagen das Geld noch nicht beisammen hat, warten die Bauern 
noch acht Tage, bis sie unter der Hand erfahren haben, daß das Geld da ist. Dann 
kommen sie und nehmen die Revision vor — und es stimmt alles wie Kirchenrechnung. 
Sie sprechen dem Cassierer ihre Befriedigung aus, aber — nehmen ihm zu seiner großen 
Bestürzung das Geld und die Casse und das Amt ab und lassen ihn mit einem langen 
Gesichte zurück. Die Leute aber, denen er unter dem Vorgeben, es ihnen nach der 
Revision wieder sofort zurückzugeben, das Geld abgeborgt hat, haben das Nachsehen 
mnd können sehen, wie sie wieder zu ihrem Gelde kommen. Die Gemeinde aber ist vor 
Verlust bewahrt geblieben — dank der Bauernschlauheit. 
Das Buch als Liebesbote. 
Eine hübsche Geschichte wird von einem jungen Mann erzählt, der Eingang in 
das Haus einer der reichsten Hamburger Familien gefunden hatte. Er verliebte sich in 
die einzige Tochter des Hauses und versuchte, sich bei ihr in jeder nur möglichen Weise 
beliebt zu machen, besonders dadurch, daß er ihr die neuesten Bücher brachte. Eines 
Tages fand der Vater der jungen Dame ein solches Buch auf dem Tisch liegen und 
begann darin zu blättern. In einem der Capitel fand er eine Anzahl von Worten mit 
Blei unterstrichen, nicht etwa besonders schöne Stellen, sondern völlig nichtssagende 
Worte, wie zum Beispiel „ich" und „Sie". Er blätterte weiter und fand überall die 
selbe Sache. Er stellte nun die unterstrichenen Worte zusammen und las Folgendes: 
„Zehr geehrtes Fräulein — wird es Sie verletzen, wenn ich Ihnen sage, daß ich Sie 
anbete, und —Kurz ein Liebesbrief schönster Sorte, der mit den Worten schloß: 
„Antworten Sie im nächsten Capitel." Der Vater nahm nun eine Bleiseder, unterstrich 
ebenfalls gewisse' Worte im nächsten Capitel, wickelte das Buch in Papier und ließ es 
durch seinen Diener dem jungen Mann zurückstellen. Der letztere öffnete das Buch 
unter lautem Herzklopfen und fand richtig im nächsten Capitel die erbetenen unter 
strichenen Worte. Er las Folgendes: „Sie junger Schurke! Wenn Sie noch einmal 
wagen, die Schwelle meines Hauses zu betreten, lasse ich Sie die Treppen hinunter 
werfen!"
	        
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