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Zufall oder Vergeltung?
Im vorigen Herbst wurde an einem Sonntag in T. eine
Arbeiterversammlung abgehalten. Ein Redner nach dem
andern trat auf und sprach unter dem Beifall der Anwesen¬
den über die bekannten Forderungen und Grundsätze des
sozialdemokratischen Programms. Zum Schlüsse bestieg ein
junger Arbeiter — kaum 22 Jahre alt — die Rednertribüne
und hielt strenges Gericht über Kirche und Priester, welche
er in rohen Ausdrücken schmähte. Er erklärte jede Religion
als Unsinn, und schließlich verstieg er sich in seiner Raserei
zu Lästerung gegen Gott, dessen Dasein er keck leugnete.
Als er geendet hatte und schweißtriefend die Bühne verließ,
gab's wohl Beifall, jedoch nur die jungen und hitzigen
stimmten ihm bei, während die älteren sich schweigend ver¬
hielten und einige schweigend den Kopf schüttelten. Es war
doch zu arg gewesen, besonders aus dem Munde eines so
unreifen Menschen. Am nächsten Morgen rauchten wieder
die Schlotte, glühten die Feuer und pochten die gewaltigen
Eisenhämmer, und alle Arbeiter standen an ihrem Platze und
schafften ernsthaft in dem heißen Tagwerk. Der gottes-
leugnerische Redner vom Vorabend war bei einem Hammer
beschäftigt, von welchem die glühenden Eisenfunken nach
allen Richtungen auseinandersprühten. Da auf einmal ein
wilder Aufschrei, und er taumelte zurück, sich das Gesicht
verhaltend; unter schmerzlichem Stöhnen sank er langsam zu
Boden; die Kameraden eilten ihm zu Hilfe und erblickten
schaudernd das Unheil, welches ihn ereilt hatte: ein glühen¬
der Eisensplitter war ihm in's Auge geflogen und hatte
dasselbe ganz zerstört, so daß das Auge, wie man sagt,
gänzlich ausgeronnen war. Welch furchtbaren Schmerz das
verursacht haben mußte, war aus feinem qualverzerrten Ge¬
sichte ans zu leien; wimmernd vor Schmerz wurde er in
das Krankenhaus getragen; nach Wochen erst konnte er das¬
selbe verlassen. Er hatte seitdem keine Rede mehr gehalten
und ist überhaupt recht still geworden. Auch auf feine Ge¬
nossen hat dieser furchtbare Unfall tiefer Eindruck gemacht,
und titele erkannten darin keinen Zufall, sondern eine gerechte
Vergeltung, und mancher sagte zu feinem Nachbar: „Den
hat die Strafe schnell erreicht, vielleicht sieht er jetzt mit
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