Volltext: 59. Heft 1914/15 (59. Heft 1914/15)

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einer Schilderung des gegenwärtigen Weltkrieges an 
erster Stelle ins Gedächtnis zurückgerufen werden. Sie 
kennzeichnen das Reich, wie es wurde, sie kennzeichnen 
aber auch die Güter, urn die wir jetzt kämpfen, die Ziele, 
die wir erreichen wollen und müssen. Von der neuen 
Kaiserkrone hieß es in der Versailler Verkündigung: 
„Wir nehmen sie an in der Hoffnung, daß dem 
deutschen Volk vergönnt sein wird, den Lohn seiner 
heißen und opfermutigen Kämpfe in dauerndem Frieden 
und innerhalb der Grenzen zu genießen, welche dem Vater¬ 
lande die seit Jahrhunderten entbehrte Sicherheit gegen 
erneuten Angriff Frankreichs gewähren. Uns aber und 
Unseren Nachfolgern an der Kaiserkrone wolle Gott 
verleihen, allzeit Mehrer des Deutschen Reiches zu sein, 
nicht an kriegerischen Eroberungen, sondern an den 
Gütern und Gaben des Friedens auf dem Gebiet natio¬ 
naler Wohlfahrt, Freiheit und Gesittung." 
Diese wahrhaft kaiserlichen, wahrhaft deutschen Worte 
entsprachen der Gesinnung des ganzen Volkes. Die Deut¬ 
schen hatten sich in ehrlichem Kampf ihre nationale Einheit 
und ihre Geltung als Großmacht erstritten; sie hatten 
damit die Güter gewonnen, deren Erringung sich Frank¬ 
reich entgegengestellt hatte. Die Niederlage Frankreichs 
schien den Deutschen der gerechte Ausgleich alles früher 
erlittenen Unrechts. Mit dem Siege war jeder Haß 
verschwunden; unter den neuen Verhältnissen wünschte 
man, mit Frankreich in Frieden zu leben, ja man hätte 
es — bei der besonderen Fähigkeit unseres Volkes, den 
Vorzügen anderer Völker gerecht zu werden — gern 
gesehen, wenn Deutschland und Frankreich Freunde ge¬ 
worden wären und sich, zum Heil der gesamten Kultur 
Hand in Hand gehend, wirksam ergänzt hätten. 
Nicht so Frankreich. Das französische Empfinden 
kam über die erlittene Niederlage, die den Zusammen¬ 
bruch des in vielen Jahrhunderten gepflegten und ge¬ 
züchteten gesamten Gedankeninhalts einer besonders 
stolzen und empfindlichen Nation bedeutete, nicht hinweg. 
Der Revanchegedanke erfüllte seit 1871 das ganze fran¬ 
zösische Denken. Wohl konnte das Friedensbedürfnis 
des Durchschnittsfranzosen, der fleißig und sparsam und 
den Gefahren und Opfern des Krieges abhold ist, zeit¬ 
weise den Anschein erwecken, als ob eine allgemeine 
Beruhigung eingetreten sei und die neue Generation, 
die den Krieg von 1870/71 nicht selbst gesehen hatte, 
aufrichtig den Frieden mit Deutschland wolle. Das 
war auch nicht ganz unrichtig, aber doch insofern eine 
Täuschung, als die friedlichen Kreise wohl die Mehr¬ 
heit, aber nicht die Führung in Frankreich hatten; 
denn das eigentümliche Temperament des französischen 
Volkes, seine besondere geistige Veranlagung und 
die sozialen Verhältnisse sorgen dafür, daß stets eine 
Minderheit, in der sich gewisse Überlieferungen und 
herrschende Sonderinteressen verkörpern, dem nationalen 
Empfinden die Richtung gibt. Trotz aller äußeren 
Friedfertigkeit, ja trotz des scheinbaren Vorherrschens 
eines entschieden unkriegerischen Sinnes und einer 
fast philisterhaften Art, über die Ereignisse in der 
weiten Welt zu urteilen, pflegte der den Regungen der 
nationalen Eitelkeit stets offene Volksgeist teils bewußt, 
teils unbewußt, teils mit prahlender Sorglosigkeit, teils 
mit deutlicher Furcht wie vor einem unabwendbaren 
Verhängnis, den Gedanken an eine neue Auseinander¬ 
setzung mit dem doch eigentlich gar nicht gekanntenund noch 
weniger verstandenen Deutschland. Er folgte dabei mehr, 
als wir glaubten und ahnten, der von Gambetta ausgegebe¬ 
nen Losung: „Immer daran denken, nie davon sprechen!" 
Es hat in der französischen Revanchelust im Lauf 
der Zeit Ebbe und Flut gegeben, je nachdem die natio¬ 
nalen Hoffnungen stärker oder weniger stark angeregt 
wurden. Äußere und innere Ereignisse haben dazu bei¬ 
getragen. Aber immer kann man, wenn die Feindschaft 
gegen Deutschland einzuschlafen schien, eine besondere 
politische Ursache, irgendeine Ablenkung nachweisen, 
nach deren Aufhören der Revanchegedanke in unver¬ 
minderter Stärke wiederkehrte. Er blieb und wuchs 
zu gefährlicher Ausdehnung, als die Ereignisse der äußeren 
Politik Frankreich die sich allmählich der Gewißheit 
nähernde Wahrscheinlichkeit brachten, daß es bei einer 
Auseinandersetzung mit Deutschland nicht allein stehen 
werde, und als zugleich die innere Entwicklung eine 
Gruppe von Politikern ans Ruder brachte, deren per¬ 
sönlicher Ehrgeiz durch einen unter guten Aussichten 
zu führenden Krieg am besten auf seine Kosten zu kommen 
hoffte. Hier müssen in erster Reihe die Namen Deleassä 
und Poinearä genannt werden. 
Was die Bundesgenossen betrifft, so hatte Frank¬ 
reich seine Hoffnungen zuerst auf Rußland gesetzt. Aber 
solange in Rußland die Persönlichkeiten und die Um¬ 
stände, die für eine friedfertige Politik gegenüber Deutsch¬ 
land sprachen, noch die Oberhand hatten, übte das 
französisch-russische Bündnis eher die Wirkung aus, 
daß es den kriegerischen Neigungen Frankreichs einen 
Zaum anlegte. Dafür erwarb Frankreich seit der Thron¬ 
besteigung Eduards VII. die Freundschaft Englands. 
Und nun erst konnte das Spiel gemischt werden, aus 
dem Deutschland nach der Absicht seiner Neider als 
Verlierer hervorgehen sollte. Die Politik der letzten 
zehn Jahre vor dem Kriege ließe sich, wäre es nicht so 
voller Bosheit und Tücke gegen uns, wie ein fesselndes 
Spiel betrachten. Frankreich glaubte England zu er¬ 
mutigen und vorzutreiben, es nach seinem Willen zu 
lenken, während England nur zögernd, vorsichtig und 
mißtrauisch, scheinbar nur der „schönen Augen" Frank¬ 
reichs wegen, zu folgen schien. Dabei merkte Frankreich 
nicht, daß es sich zum Opfer und ahnungslosen Werk¬ 
zeug der rücksichtslosen britischen Jnteressenpolitik machte, 
daß England der führende Teil in diesem Spiel war. 
Die französische Politik war so ausschließlich auf die 
Feindschaft gegen Deutschland eingestellt, daß sie ganz 
in der Freude aufging, für den bevorstehenden Krieg 
mächtige Bundesgenossen in Rußland und England ge¬ 
funden zu haben, und dabei übersah, daß sie die Mög¬ 
lichkeit, Zeitpunkt und Umstände dieses Kampfes selbst 
zu bestimmen, aus der Hand gegeben hatte. Wenn es 
England oder Rußland oder beiden gefiel, das Schwert 
gegen Deutschland zu ziehen, mußte Frankreich folgen. 
Was aber hatte Rußland zum Feinde des Deutschen 
Reiches gemacht? Ein wirklicher Haß gegen das deutsche 
Volk ist den Russen ursprünglich nicht eigen. Der Russe 
aus dem Volke bringt dem Deutschen wie jedem West¬ 
europäer, mit dem er in nähere Berührnng tritt, ein 
Gefühl entgegen, das aus instinktmäßiger Ablehnung 
jedes fremden Wesens, Furcht vor den Wirkungen 
kultureller Überlegenheit, etwas abergläubischem Un¬ 
behagen vor allem Unverstandenen, großer Achtung, 
so gm Bewunderung und gutmütigem Gewahrenlassen 
seltsam gemischt ist. In den höheren Schichten kommt 
dazu eine stärkere Abneigung, die in den Kreisen des 
Geschäftslebens und der studierten Berufe durch die 
häufige Erfahrung geschaffen worden ist, daß der Deutsche 
durch Gründlichkeit, Fleiß und strengere Begriffe von 
Recht und Sittlichkeit mehr vor sich bringt als der mit
	        
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