Volltext: 58. Heft 1914/15 (58. Heft 1914/15)

458 ccoaoqDOOooaooocoaoodqöoooooooa'coocoaaoscoooaccaoooQQoooooocooooooooooooooooooco 
Bulgarien und sein Leer. 
Nachdem die Türkei vor kurzem die Nordwestecke 
ihres europäischen Besitzes, nämlich das Gebiet westlich 
der Mariza und der Tundja, durch Vertrag an das König¬ 
reich Bulgarien abgetreten hat, umfaßt dieses einen 
Flächenraum von 117 OOO Quadratkilometer, der an¬ 
nähernd der Größe von Bayern, Württemberg, Baden 
und Hessen entspricht. Der bedeutende Höhenzug des 
Balkans trennt Nord- und Südbulgarien. Von be¬ 
sonderem Interesse ist gegenwärtig das Grenzgebiet 
gegen Serbien, das von den bulgarischen Armeen bei 
Kriegsbeginn durchschritten ist. Die Mittel- und die 
Hochgebirgszüge, unter denen das Rhodope-Gebirge mit 
dem Mus Allah 2924 Meter erreicht, sind ausnahmslos 
für Truppen sehr schwer gangbar. Das Vorgehen muß 
sich auf die Übergänge beschränken. Die wichtigste Ope¬ 
rationslinie ist die Straße Sofia—Dragoman-Paß— 
Pirot mit ihren Verzweigungen in das Timok-Tal und 
das Morava-Tal. Aus Nordbulgarien führen ferner 
Straßen über den Sveti-Nikola-Paß oder über den 
Kadi-Bogas-Sattel in das Timok-Tal. Serbien schuf sich 
zum Schutz die Lagerfestung Zajecar (Saitschar). Weiter 
südlich beschränkt sich die Vormarschmöglichkeit auf die 
wichtigen StraßenSosia—Köstendil—Uesküb und Sofia— 
Struma-Tal—Seres—Saloniki. 
Bulgarien ist ein Verfassungsstaat. König Ferdi¬ 
nand I. aus dem Hause Sachsen-Koburg-Gotha, und zwar 
aus dem österreichischen Zweige der Koburg-Kohüry, 
regiert seit 1887. Die Nationalversammlung (Sobranje) 
hat 300 Abgeordnete. — Die Bevölkerung beträgt 
ungefähr 4 750 000 Köpfe, etwas weniger als die des 
Königreichs Sachsen; 42 Bewohner auf einen Quadrat¬ 
kilometer. Die Bulgaren sind ein eigenartiges Mischvolk, 
das man im allgemeinen als slawisierte Mongolen 
bezeichnen kann. Sie gehören zumeist der griechisch- 
orthodoxen Kirche an. Zu der Bevölkerung gehören aber 
rund eine halbe Million Türken (Mohammedaner), 
80 000 Rumänen,. 40 000 Griechen, 120 000 Zigeuner 
und 38 000 Juden. 
Der eigentliche Bulgare ist ein vortrefflicher Soldat, 
anspruchslos, nüchtern und zäh, seinen Führern treu er¬ 
geben, für Vaterland und Glauben hingebend begeistert. 
Wohl jeder, der Gelegenheit gehabt hat, die Balkan¬ 
völker in ihrer Heimat kennen zu lernen und zu ver¬ 
gleichen, wird den Eindruck gewonnen haben, daß die 
Bulgaren den rein slawischen Völkern überlegen sind. 
Bulgarien hat im Gegensatz zu Serbien und Monte¬ 
negro ein stehendes' Heer, und zwar mit zweijähriger 
Dienstzeit bei der Infanterie, dreijähriger bei allen 
andern Waffen. Die Wehrpflicht dauert vom 20. bis zum 
vollendeten 46. Lebensjahre. Die bewaffnete Macht 
zerfällt in das Feldheer mit Reserve und die Volkswehr 
(Opoltschenje). Dem Feldheer gehören die Infanteristen 
20, die anderen Soldaten 19 Jahre an. Mohammedanern 
ist der Loskauf gestattet. Alle Truppen sind neuzeitlich 
nnd einheitlich bewaffnet und ausgerüstet. Nachschub 
und Pferdeergänzung sind im Frieden sichergestellt. 
Bei der Artillerie besteht das System der Urlauberpferde. 
Es ist bekannt, daß das Königreich auch eine Kriegs¬ 
flotte hat. Der Sitz des Flottenkommandos ist in Varna. 
Nach den Löbellschen „Jahresberichten" für 1914 
wird die Feldarmee aus 15 Infanteriedivisionen, 3 selb¬ 
ständigen Freiwilligenkorps, 1 Kavalleriedivision, zu¬ 
sammen mindestens 252 Bataillonen, 37 Eskadrons, 
136 Feldbatterien — davon 81 Schnellfeuerbatterien, 
23 bis 32 Gebirgsbatterien, 20 schweren Haubitzbatte¬ 
rien — 9 Pionierbataillonen bestehen. Außerdem ver¬ 
bleiben dann noch 36 Landsturmbataillone mit etwa 
30 000 Mann. Bereits im Sommer 1913 konnten die 
bulgarischen Streitkräfte auf 360 000 bis 400 000 Mann 
berechnet werden. 
Die Friedenseinteilung besteht in 3 Armeeinspek¬ 
tionen mit 10 Divisionen, zusammen etwa 4000 Offi¬ 
zieren und 120 000 Mann. 
Die Bekleidung besteht bei der Infanterie, Artillerie, 
Pionieren aus einem dunkelbraunen, bei der Kavallerie 
aus einem dunkelblauen Rock. Allgemein getragen wirb 
die blaugraue Hose. 
Die Bewaffnung besteht bei der Infanterie aus dem 
8-Millimeter-Repetiergewehr 88 und dem Mannlicher- 
Gewehr 95. Die Kavallerie führt Säbel und 8-Milli- 
meter-Repetierkarabiner 95. Die Feldartillerie hat 
Schnellfeuergeschütze Schneider-Canet 1903, Schnell- 
gebirgsgeschütze Krupp 7,5 Zentimeter 1905, die Fu߬ 
artillerie Krupp- und Schneider-Canet-Geschütze. — 
Oberster Kriegsherr ist der König, der General Jekow 
zum Oberbefehlshaber im Kriege ernannt hat. 
In den beiden Balkankriegen kämpften die Bul¬ 
garen mit heldenmütiger Tapferkeit, aber schließlich nicht 
mit vollem glücklichen Erfolge. Sie hatten im Kriege 
gegen die Türkei den Löwenanteil des Kampfes auf sich 
genommen, hatten für ihre Bundesgenossen gerungen 
und geblutet, wurden dann von diesen angegriffen und 
mußten auf sehnsüchtig erstrebte, von Volksgenossen be¬ 
wohnte Gebiete, besonders in Mazedonien, verzichten. 
At, 
* * 
* 
Die Kämpfe um Pirot. 
Immer enger zieht sich die Schlinge, die die serbische 
Armee zu erdrosseln bestimmt ist. Die Serben selbst 
werden von den in Saloniki gelandeten Franzosen 
und Engländern trotz all der großsprecherischen Ver¬ 
heißungen kaum noch wirksame Hilfe erwarten. Sitz 
fühlten auch nach den ersten Schlägen der neuen, von, 
den Bulgaren und den Zentralmächten gleichzeitig be¬ 
gonnenen Offensive, daß diesmal die eisernen Würfel, 
um ihr Sein oder Nichtsein rollen. Das erklärt uns, 
warum sie geradezu verzweifelten Widerstand leisten, sich 
nicht nur bis aufs Messer, nein, wie die wilden Tiere mit 
den Zähnen wehren. Ganz Serbien ist, wie die Berichte 
immer wieder hervorheben, in den letzten Monaten gleich¬ 
sam eine einzige große Festung geworden; Schritt vor 
Schritt muß das Terrain erobert werden, und die Serben 
kämpfen mit dem wilden Mute letzter Verzweiflung. 
Andrerseits werden auch von seiten der Bulgaren, die 
ja mit den Serben eine lange Rechnung zu begleichen 
haben, die Kämpfe mit der wütendsten Erbitterung durch- 
gefochten. AIs es galt, Pirot zu stürmen, diese in den 
letzten Jahren von den Serben in modernster Weise 
ausgebaute, natürliche Festung, deren Terrain mit 
Stacheldrahtzäunen förmlich besät ist, verteidigten die 
mit Geschützen und Munition von ihren Verbündeten 
offenbar wohlversehenen Serben den strategisch sehr 
wichtigen Punkt mit einem wahren Hagel von Granaten. 
Es blieb den Bulgaren schließlich nichts weiter übrig, 
als zu versuchen, die sich wie ein Labyrinth um die 
ganze Stadt ziehenden, steilen Höhen mit den serbischen 
Schützengräben im - Sturmangriff zu nehmen. Vom 
Nebel und Regen begünstigt, schlichen sie sich, ihre Flinten 
zurücklassend und nur mit dem Seitengewehr bewaffnet,
	        
Waiting...

Nutzerhinweis

Sehr geehrte Benutzerin, sehr geehrter Benutzer,

aufgrund der aktuellen Entwicklungen in der Webtechnologie, die im Goobi viewer verwendet wird, unterstützt die Software den von Ihnen verwendeten Browser nicht mehr.

Bitte benutzen Sie einen der folgenden Browser, um diese Seite korrekt darstellen zu können.

Vielen Dank für Ihr Verständnis.