Volltext: 57. Heft 1914/15 (57. Heft 1914/15)

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Ministerpräsidenten Salandra, der als Antwort auf 
die österreichisch-ungarischen Veröffentlichungen eine 
große Rede auf dem Kapitol zu Rom losließ. Daß die 
Stätte, an der er sprach, und die reich ist an großen 
Erinnerungen einer machtvollen Vergangenheit, diesen 
Staatsmann zu der Äußerung berauschte, er habe das 
Gefühl, viel vornehmer zu sein als das Haupt des Hauses 
Habsburg-Lothringen und die mittelmäßigen Staats¬ 
männer wie Bethmann Hollweg und so weiter, wird 
man ihm allenfalls zugute halten; daß er aber sich er¬ 
kühnte, zu behaupten, Italien sei Deutschland in der 
Kultur um 2000 Jahre voraus, dies war denn doch allzu 
gewagt in einem Lande, wo durchschnittlich die Hälfte 
der Bewohner nicht lesen und schreiben kann. Ein 
schallendes Gelächter der ganzen Welt wäre die richtige 
Antwort darauf gewesen. 
Das italienische Grünbuch und. das österreichisch¬ 
ungarische Rotbuch gaben weitere Aufschlüsse über die 
Verhandlungen vom Juli 1914 bis Mai 1915. Die Skru¬ 
pellosigkeit des italienischen Ministers des Äußern, 
Baron Sonnino — wollte er doch ohne Bedenken Öster¬ 
reich-Ungarn gänzlich vom Meere absperren, ein Reich 
von 50 Millionen! —, wird nur übertroffen von seiner 
Ungeschicklichkeit in den Verhandlungen. _ Verdrossen, 
leicht gereizt, immer in Besorgnis wegen seines Ruhmes, 
verursachte er oft Stockungen in den Unterhandlungen. 
Der König erscheint nirgends als selbständig handelnde 
Kraft. Man mißbraucht ihn, indem man von den öster¬ 
reichisch-ungarischen Unterhändlern unter dem Vorgeben, 
er könne sonst seinen Thron verlieren, mehr herauszu¬ 
pressen sucht. Bald ist es so weit, daß Sonnino, der noch 
gar nicht lange vorher erklärt hatte, das Festhalten am 
Dreibund sei die einzige natürliche Politik für Italien, 
sich als Österreich-Ungarns erbitterter Gegner erweist, 
und daß König Viktor Emanuel Freundschaftstelegramme 
nach London, Petersburg und Paris schickt wie vorher 
nach Wien. Wenn auch die politische Unbedenklichkeit 
des Generalstabschefs Grafen Cadorna, der die Gelegen¬ 
heit militärisch für günstig hielt, eine starke treibende 
Kraft gewesen ist; wenn auch die Behauptung Salandras 
und Sonninos gegenüber dem Fürsten Bülow: die öster¬ 
reichisch-ungarische Monarchie könne wegen der inneren 
Zustände keinen Krieg führen, ein scharfes Schlaglicht 
auf die Gedankenrichtung der maßgebenden Persönlich¬ 
keiten wirst; wenn auch weiterhin das Umsichgreifen der 
mit Verschwendung riesiger Mittel unternommenen irre» 
dentistischen Agitation sowie die Furcht vor England 
wegen der eigenen Küsten und die Vorliebe für Frank¬ 
reich, die „lateinische Schwester", vieles erklärt: die Wand¬ 
lung vom Bundesgenossen über wohlwollende Neu-, 
tralität zum offenen Gegner enthält noch so manche Un¬ 
begreiflichkeit, und erst eine spätere Geschichtschreibung 
wird hier helleres Licht verbreiten können. 
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* 
Die Siedehitze der Leidenschaft, der die Italiener 
sich zum großen Teil in diesen Tagen ergaben, zeigte 
sich recht anschaulich in dem Wüten des Pöbels, des 
gebildeten und ungebildeten, gegen Person und Eigen¬ 
tum der Deutschen, Österreicher und Ungarn. Da war 
von zweitausendjähriger Kultur nichts zu merken. Natür¬ 
lich fanden bei dem leicht erregbaren Volke auch die Lügen 
über Zerstörung italienischen Eigentums in Deutschland 
und Mißhandlung von Italienern bereitwilligen Glauben, 
und daß ein unzurechnungsfähiger Mensch dem italieni¬ 
schen Botschafter in Berlin den Zylinder einzutreiben 
versuchte, wurde zu schweren Ausschreitungen der Ber¬ 
liner Bevölkerung aufgebauscht. Daß viele Italiener 
nicht aus dem Auslande heimkehrten, war richtig, manche 
nahmen das Reisegeld ihrer Konsuln und blieben, aber 
dies geschah nicht wegen schlechter Behandlung, sondern 
eher wegen des Gegenteils. Die Presse aber schürte 
fortdauernd. Alle maßgebenden italienischen Blätter, 
die bis dahin für die Neutralität Italiens waren, schwenk¬ 
ten in diesen Tagen um, mit Ausnahme des sozialistischen 
„Avanti". Maßnahmen der Regierung verstärkten die 
allgemeine Erregung. So wurde alsbald jede Mitteilung 
über die Zahl der Verwundeten und Toten untersagt, 
und die Kriegsberichterstattung durfte lediglich offiziell 
sein. Das Spionenfiebernahm alsbald eine beängstigende 
Ausdehnung an. So kam es zu jenen Zerstörungen 
deutscher Geschäfte in Mailand, durch die auch viele 
Italiener, die dort beschäftigt waren, betroffen wurden. 
Das schlimmste war, daß die Soldaten diesen Ver¬ 
wüstungen mit Gewehr bei Fuß untätig zusahen. 
Bei alledem muß man allerdings berücksichtigen, daß 
die französisch-belgisch-englisch-russische Lügenfabrik mo¬ 
natelang vorgearbeitet hatte, fanatische Wanderredner aus 
Belgien die Bevölkerung gegen alles Deutsche anfzu- 
wiegeln versucht hatten. So machte gerade zu jener Zeit 
die Geschichte von den belgischen Kindern, denen von 
deutschen Soldaten die Hände ab gehauen sein sollten, 
wieder die Runde. Ein Gegenstück wurde aus Mai¬ 
land berichtet. Die ganze Erzählung wurde mit 
Namen beglaubigt, man staunt immer wieder über die 
teuflische Art dieser Lügen. Im „Popolo d'Italic" er¬ 
zählte ein besonders deutschfeindlicher Schriftsteller, zu 
einem bestimmten Mailänder Arzt feien zwei Knaben 
gekommen, denen die Deutschen aus reiner Blutgier die 
Finger der rechten Hand abgehauen hätten. Die Knaben, 
Söhne italienischer Eltern, seien nach Deutschland geschickt 
worden, um die deutsche Sprache zu lernen, und jetzt 
zurückgekehrt, nachdem sie eine Behandlung erfahren 
hätten wie die belgischen Kinder, nach dem Rezept des 
deutschen Reichskanzlers, der Italien zugerufen habe: 
„Hände weg!" Der genannte Arzt nun schickte der 
Zeitung eine Erklärung, es fei an der ganzen Geschichte 
kein wahres Wort. Das Blatt nahm die Erklärung nicht 
auf. So wurde an der Vergiftung der Seelen gearbeitet. 
Die Verantwortung kommt über die, die ihren Einfluß 
auf die Bevölkerung gemißbraucht haben. Man kann 
wohl mit einigem Recht behaupten, daß wie die Re¬ 
gierung auch das Volk der Suggestion erlegen ist. 
Bon solchem fanatischen, plötzlich emporzüngelnden 
Haß beseelt, zog man aus, die italienischen Brüder jen¬ 
seits der Grenze vom Joche Österreichs zu „erlösen". 
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Daß es sich durchaus nicht um einen „militärischen 
Spaziergang" handelte, wie man in Italien glaubte, 
mußte unbefangen Urteilenden von Anfang klar sein. 
Die italienische Kriegserklärung hatte in Österreich- 
Ungarn fast wie eine Befreiung gewirkt; brauchte man 
nun doch dem verräterischen Bundesgenoffen kein Ge¬ 
biet abzutreten, konnte man nun doch auf die jahrzehnte¬ 
langen Anreizungen über die Grenze hin endlich die 
rechte Antwort geben. In Tirol schlug alsbald der alte 
Geist trotziger Heimatliebe empor. Scharen von Frei¬ 
willigen meldeten sich, in den ersten Tagen über 12 000, 
darunter 1500 im Alter von 65—70 Jahren. Die Zeiten 
der Tiroler Freiheitskämpfe vor hundert Jahren gegen 
Napoleon schienen wiedergekehrt; der Geist der Bevölke¬ 
rung, das sah man, war noch der alte. Tirol besitzt in 
seinen Standschützen einen Kern der Landesverteidigung,
	        
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