Volltext: 20. Heft 1914/15 (20. Heft 1914/15)

vielmehr ihre mit der Narew- und Njemen-Armee nach 
Ostpreußen geworfene Übermacht anscheinend für so 
unbezwinglich gehalten, daß sie hinter diesen Armeen 
für die nächste Zeit keine genügenden Reserven zur Ver¬ 
fügung hatten. Nur der Schutz, den ihnen die durch natür¬ 
liche Schwierigkeiten und eine Kette von Befestigungen 
verteidigte Narewlinie und ihre weitere Verlängerung 
bis Kowno gewährte, und die Möglichkeit, unter diesem 
Schutz wieder neue Truppennachschübe aus dem Innern 
des Reiches alsbald in Bewegung zu setzen, rettete die 
Russen vor weiteren schlimmen Folgen der Katastrophe. 
Die deutschen Truppen folgten den abziehenden Geg¬ 
nern in südöstlicher Richtung, teils auf Augustowo, teils 
an der nach Bjelostock führenden Bahnlinie vorstoßend. 
Schon am 17. September kam es bei Augustowo zu neuen 
heftigen Kämpfen, an denen auf russischer Seite u. a. 
die 4. finnländische Schützenbrigade beteiligt war und 
völlig geschlagen wurde. Gleichzeitig gewannen auch die 
über Lyck südwärts die Grenze überschreitenden Heeres¬ 
teile Boden. Der soeben genannten Eisenbahnlinie 
folgend, besetzten sie die Grenzstation Grajewo auf russi¬ 
schem Gebiet und nahmen das südwestlich davon gelegene 
Schtschutschin. Als weiteres Ziel des Vormarsches,ergab 
sich von dort die kleine Festung Ossowez am Bobr. 
So näherten sich unsere Truppen bereits der star¬ 
ken Befestigungslinie, die durch die Hauptstützpunkte 
Kowno und Grodno am Njemen und dann weiter an 
Bobr und Narew durch Ossowez, Lomza, Ostrolenka, 
Roschan, Pultusk und zuletzt Nowo-Georgiewsk bezeich¬ 
net wird. Der sumpfige Charakter des ganzen Ge¬ 
ländes am Narew und seinen Zuflüssen erhöht die Ver¬ 
teidigungsfähigkeit dieser Befestigungslinie, und es war 
unter solchen Umständen selbstverständlich, daß die tak¬ 
tische Ausnutzung der in Ostpreußen errungenen großen 
Erfolge unserer Ostarmee hier zunächst eine Grenze 
fand. Die Hauptsache war, daß eine ernste Bedrohung 
des linken Flügels unserer Stellungen auf dem östlichen 
Kriegsschauplatz und des von der feindlichen Invasion 
noch unberührten Teiles von Ostpreußen vorläufig nicht 
befürchtet zu werden brauchte. Mit der Möglichkeit eines 
erneuten Einrückens der Russen in das Gebiet östlich 
der masurischen Seen mußte gerechnet werden. 
Es war daher keine Überraschung, als Anfang Oktober 
Nachrichten kamen, daß neue russische Kräfte hinter dem 
Njemen versammelt wurden, deren Anmarsch bald zu 
erwarten war. Die russische Heeresleitung bereitete 
schon darauf vor, indem sie die nicht länger zu verheim¬ 
lichenden vorangegangenen Niederlagen in einen Zu¬ 
sammenhang mit den geplanten neuen Unternehmungen 
brachte. Um dafür Stimmung zu machen und zu zeigen, 
daß jene Niederlagen keine sonderliche Bedeutung 
hätten, ließ sie schon am 30. September folgendes 
schreiben: „Unser Einmarsch in Preußen bedeutete nichts 
als eine Kundgebung, die uns ebenso teuer zu stehen 
kam wie unseren Feinden. Wir haben in dieser Absicht 
die Kräfte des Feindes festgehalten, die sich sonst vielleicht 
den Weg auf Paris gebahnt hätten. Mit seinen dezi¬ 
mierten Reihen ist das -deutsche Heer jetzt gezwungen, 
wieder von vorne anzufangen." 
Wie man aus der Fassung dieser Kundgebung 
leicht erkennen kann, war sie nicht zum geringsten Teile 
auch au die Adresse der französischen und englischen 
Freunde gerichtet, die darüber getröstet werden 'sollten, 
daß die russische „Dampfwalze", die sich nach ihren Er¬ 
wartungen gegen Berlin in Bewegung setzen sollte, 
nicht ganz die Arbeit getan hatte, auf die sich die Ver¬ 
bündeten gefreut hatten. Im übrigen hatte es mit dem 
„wieder von vorne anfangen" eine eigene Bewandtnis. 
Die neuen Kräfte, die Rußland jetzt in Bewegung setzte, 
hatten schon nicht mehr den Wert und die Gefechtskraft 
der zuerst eingesetzten Truppen, wenn auch die Kraft der 
russischen Feldarmee, wie sie schon in der Friedens¬ 
arbeit planmäßig vorbereitet war, bei weitem noch nicht 
erschöpft war. Immer noch konnten die Russen eine an¬ 
sehnliche Übermacht, eine mindestens dreifache Übermacht, 
entwickeln, und unter diesen Truppen gab es tüchtige 
Kerntruppen von achtungswerter Schlagkraft; noch war 
auch die Ausrüstung der Soldaten mit Waffen, Munition, 
kriegsbrauchbarer Kleidung und sonstigem Material 
durchaus auf der Höhe. An Maschinengewehren waren 
noch große Vorräte vorhanden, das Geschützmaterial 
reichte aus, und die Verpflegung der Truppen ließ zwar 
stellenweise zu wünschen übrig, war aber im allgemeinen 
dem Anschein nach gut genug, um ihre Leistungsfähigkeit 
nicht wesentlich in Frage zu stellen. Und doch war das 
Selbstvertrauen der Truppen, die Zuversicht in ihre 
Überlegenheit bereits in dem Maße erschüttert, als sie 
bei den Deutschen gesteigert war. Die prahlerische Sicher¬ 
heit, mit der die russische Heeresleitung auf die numerische 
Überlegenheit und die angebliche Unerschöpflichkeit ihres 
Menschenmaterials pochte, fand keine entsprechende 
Unterlage in der wirklich vorhandenen moralischen Wider- 
standssäjigkeit der Mehrheit und des Durchschnitts der 
russischen Truppen gegenüber energisch und zielbewußt 
durchgeführten Angriffen. Bei unsern deutschen Soldaten 
befestigte sich, obwohl sie mit Achtung und ohne Über¬ 
hebung die Vorzüge und vortrefflichen militärischen 
Eigenschaften des russischen Soldaten anerkannten, die 
Überzeugung, daß man mit den Russen, auch wenn sie 
in der Übermacht erschienen, jederzeit fertig werden 
könne. Und unter diesen starken moralischen Antrieben, 
die durch ein festes, fast kindliches Vertrauen zu der 
Führung Hindenburgs noch gesteigert wurden, brachten 
sie es unter unerhörten Anstrengungen und Entbehrungen 
in diesem Feldzuge zu Leistungen, die bis jetzt in der 
Kriegsgeschichte nicht ihresgleichen haben. 
Die Truppenteile, die die Russen aufs neue über den 
Njemen vorschickten, bestanden zum Teil aus den ge¬ 
schlagenen Korps, die gesammelt, ergänzt und neu for¬ 
miert worden waren, zum Teil aus neu herangezogenen 
Korps, unter denen z. B. auch die sibirischen waren. 
Der linke Flügel, der wiederum über den Njemen 
vordringenden russischen Armeen, bestehend ans dem 
3. sibirischen und 22. Armeekorps, geriet schon in den 
ersten Oktobcrtagen bei Augustowo mit den deutschen 
Truppen ins Gefecht. Zwei Tage dauerte der erbitterte 
Kampf, in dem die Russen abermals geschlagen wurden. 
Wiederum fielen mehr als 2000 unverwundete Gefan¬ 
gene in unsere Hände; eine große Anzahl von Geschützen 
und Maschinengewehren wurde erbeutet. Einige Tage 
später erlitt auch der rechte Flügel der Russen im Gouver¬ 
nement Suwalki eine Niederlage. Schon am 8. Oktober 
brachten die mit außerordentlicher Zähigkeit kämpfenden 
Deutschen trotz ihrer Minderzahl den Vormarsch der 
Russen zum Stehen, und am Tage darauf konnte der 
Angriff des Feindes als abgewiesen gemeldet werden. 
Auch hier verloren die Russen 2700 Gefangene und neun 
Maschinengewehre. Der Erfolg unserer Truppen ist 
um so mehr anzuerkennen, als die inzwischen wieder 
mächtig wachsende Übermacht der hinter Njemen und 
Narew versammelten russischen Streitkräfte sich bereits 
stark geltend machte.
	        
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