Volltext: 190. Heft 1914/18 (190. Heft 1914/18)

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trägt. Abgerisseue Vorhänge, abgeschnittene Leder« 
riemen, zerschlagene Fenster, entwendete Sitzpolster, 
abgebrochene Klinken ^— die Bolschewisten haben sich 
mit Erfolg alle Mühe gegeben, die alten Vandalen zu 
übertreffen. 
Auf den Bahnhöfen überall stärkstes Gedränge. 
Es sind wenig Züge im Betrieb, der Sturm um Sitz- 
oder auch um Stehplätze, sei es sogar auf den Tritt- 
brettern und selbst auf den Wagendächern, ist gewaltig, 
obgleich die frühere Gepflogenheit, den Fahrpreis 
schuldig zu bleiben, nach und nach aufgehört hat, feit 
die Deutschen einige Ordnung in den Betrieb gebracht 
haben. 
Nach den schönen großen Bahnhöfen von Brest, 
Kowel und andern Städten, deren Kriegsschäden meist 
bereits ausgebessert sind, nimmt in Kiew eine elende, 
schmutzige Holzbaracke den Reisenden in Empfang, doch ist 
dieser Mangel nur mittelbar auf den Krieg zurückzuführen. 
Kurze Zeit vor Kriegsbeginn wurde der frühere Bahnhof 
niedergelegt, um durch einen Neubau ersetzt zu werdeu, 
man kam aber nicht mehr dazu, und so muß sich die 
Großstadt Kiew bis auf weiteres mit der Schäbigkeit 
eines folchen Ersatzbahnhofes begnügen. 
Dieser erste unerfreuliche Eindruck wird aber bald 
verwischt, wenn man die Stadt betritt, die berechtigter- 
weise den Ruf genießt, eine der schönsten Städte des 
ehemaligen Zarenreiches zu sein. In den breiten Straßen, 
die überragt sind von den goldstrotzenden Kuppeln und 
Zwiebeltürmchen der zahlreichen Kirchen, herrfcht leb- 
hafteste Bewegung. Zu den etwa 700 000 Einwohnern, 
die Kiew in Friedenszeit zählte, sind einige hundert¬ 
tausend Zuzügler hinzugekommen: Gutsbesitzer mit 
ihren Familien, die sich erst vor der bolschewistischen 
Flut, dann vor den Revolten der landlosen Bauern nach 
der Stadt geslüchtet haben, russische Offiziere, die unter 
bolschewistischer Bedrohung feinerzeit die Front ver- 
lassen haben, aus russischer Gefangenschaft entwichene 
deutsche Soldaten, eine Unmenge Polen, die ehedem 
von den Russen aus dem Königreich verschleppt wurden 
oder freiwillig mit den weichenden Ruffeu ihre Heimat 
verließen und nun in Kiew auf die deutfche Erlaubnis 
zur Rückkehr nach Polen warten, dann die zahlreichen 
und vielköpfigen deutschen Militär- und Zivilbehörden 
(Diplomatie, Einkaufskommissionen usw.), für die Unter- 
knnft geschaffen werden mußte — kurz die Stadt ist 
überfüllt und leidet unter einer Wohnungsnot sonder- 
gleichen. 
Dieser Menschenfülle entspricht das buutbe- 
wegte Straßenbild. Es ist nicht wahrscheinlich, daß 
es irgendeine europäische Stadt heute gibt,, die einen 
solchen Wagenverkehr aufzuweisen hätte, wie' Kiew, wo 
Hunderte von russischen Trabereinspännern und zahl- 
reiche Automobile auf und ab jagen, und kaum wird 
man eine andre Stadt in Europa finden, wo so wenig 
vom Weltkrieg zu spüren ist, wie dort. 
Nur die Teuerung allerdings ist — fast kann man 
sagen — überwältigend, was aber nicht etwa von 
Mangel an Lebensmitteln herrührt, sondern von der 
Entwertung des Geldes und von zügelloser Spekulation. 
Mangel ist in der Ukraine nicht vorhanden, nicht in den 
Städten und noch weit weniger auf dem Lande. Im 
Gegenteil: es ist alles in Hülle und Fülle da, die Markt- 
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Leben und Treiben auf der Hauptstraße in Kiew. 
Aufn. Bild- und Filmamt, Berlin. 
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