Volltext: Deutsche Naturwissenschaft, Technik und Erfindung im Weltkriege

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Robert Sommer 
befestigt, sodaß man gerade auf Grund der Erfahrungen des Krieges immer mehr den 
Begriff des chronischen Affektes aufstellen muß. Andererseits ist in einer bei 
früheren Kriegen ungeahnten Weise unser ganzes Leben auch in der Heimat von 
Vorstellungen durchdrungen worden, die direkt oder indirekt mit dem Krieg zu 
tun haben, sodaß wir tatsächlich in einem dauernden psychischen Kriegs - 
komplex leben. Sehr charakteristisch in dieser Beziehung ist die Erscheinung, 
daß viele Menschen, die sich eindringlich u. a. mit der militärisch-politischen Lage 
beschäftigen, z. B. beim Aufwachen in ihren Gedanken an der Stelle wieder an- 
knüpfen, an der der Faden beim Einschlafen gerissen ist. Je länger der Krieg dauert, 
desto .mehr wird unser ganzes Vorstellen, Fühlen und Denken in den Zauberkreis 
des Krieges hineingezogen, und das, was wir in der Heimat in dieser Beziehung 
erleben, zeigt sich in noch viel höherem Grade bei den kämpfenden Truppen in der 
Front.« 
Diese Komplexbildung ist jedoch sehr wahrscheinlich von außerordentlicher 
Bedeutung für die Anpassung an die völlig veränderten Lebens Verhältnisse 
im Krieg. Eine ganze Menge von Dingen, die uns während der Friedenszeit als 
unmöglich oder sonderbar erschienen wären, werden nun aus dem Kriegskomplex 
heraus als etwas Selbstverständliches und Notwendiges betrachtet. Man denke 
z. B. an die umfangreiche Verwendung von Frauen in den verschiedensten Berufen, 
z.B. im Eisenbahndienst mit Veränderung der Tracht durch Anwendung von Männer 
kleidung. Das, was uns vor dem Krieg als eine Art von Theaterbild vorgekommen 
wäre, erscheint jetzt aus dem Kriegskomplex heraus als etwas völlig Selbstverständ 
liches. Dies ist auch der Grund, weshalb die Öffentlichkeit in Deutschland sich so 
rasch mit den vielen sonderbaren Anblicken abgefunden hat, die der Kriegszustand 
jetzt bietet. Es ist psychologisch daraus ersichtlich, daß auch unsere Wahrnehmung, 
und die Beurteilung der äußeren Erscheinung in unserer Umgebung, außerordentlich 
von den Vorstellungskomplexen abhängig ist, mit denen wir an die Betrachtung 
der Wirklichkeit herangehen. 
V. Affektzustände. 
Schon bei der Ausbildung der psychischen Kriegskomplexe spielen die Affekte 
eine bedeutende Rolle. In dieser Beziehung hat der Krieg den ganzen Untergrund 
der seelischen Vorgänge im Einzelnen und in ganzen Völkern bloßgelegt und nach 
der Art eines starken Erdbebens in heftige Bewegung gebracht. Alles, was in den 
Verhältnissen des Friedens schlummerte oder nur gelegentlich bei einzelnen Per 
sönlichkeiten oder bei besonderen Lebensschicksalen plötzlich, öfter in überraschender 
Weise, in Erscheinung trat, ist durch den Krieg in Bewegung gesetzt worden. Dabei 
reagiert im allgemeinen jeder Einzelne entsprechend der schon vor dem Krieg 
bei ihm vorhandenen Anlage, jedoch infolge von der außerordentlichen Stärke des 
Reizes, der hier in der Gesamtsumme von Erregungen durch den Krieg besteht, 
außerordentlich heftig. Dadurch werden die einzelnen Menschen, die vorher durch 
das gemeinsame Band des Friedens und durch die natürliche Hemmung der geselligen 
Beziehungen vielfach im Zaum, gehalten werden, in verschiedene Richtungen 
getrieben und stellen sich manchmal geradezu als eine karrikierte Steigerung
	        
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