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Rudolf Stübe
— gegenüber außerordentlich schwierig ist, das ist das innere Verständnis des seeli
schen Wesens dieser alten, von unserer Wesensart so tief verschiedenen Kulturvölker.
Unser Denken ist es vor allem, was uns vom Geist Indiens und Chinas scheidet.
Beide sind untereinander wieder Gegensätze: höchste, gedankentiefste Jenseitig
keit, Metaphysik, Religion, Phantasie und Individualismus in Indien — ausgeprägte,
starke Diesseitigkeit, praktische Nüchternheit, soziale Ethik und politischer Rea
lismus in China. Das ist es, was sich in beschreibende Werte fassen läßt; aber es
ist noch lange nicht die Seele der Völker und ihrer Kulturen. Was dem Buche von
Ganga-rao seinen hohen Wert gibt, ist der Umstand, daß ein europäisch gebildeter,
aber indisch fühlender Geist die Psyche seiner Nation dem europäischen Denken
enthüllt. Er will damit zugleich erklären, warum Indien sich gegen England ruhig
und abwartend verhält, wo der Deutsche Tatkraft und Handeln fordern würde.
Die Ereiheitsidee ist in beiden Völkern verschieden, obwohl beide Völker als Vertreter
des Individualismus in der Welt sich innerlich berühren und verstehen.
Sten Konow, Die indische Frage. Hamburg 1915.
, Indien unter der englischen Herrschaft. Tübingen 1915.
Hermann von Staden, Indien im Weltkrieg. Stuttgart 1915.
, Die Völker Indiens und der Weltkrieg. (Geist des Ostens. 1914, Dezember.)
Karl Stählin, Das äußere und das innere Problem im heutigen Britisch-Indien. Heidelberg 1908.
Indien unter der britischen Faust. Englische Kolonialwirtschaft im englischen Urteil. Heraus
gegeben von der Indischen Nationalpartei. 2. Aufl. Berlin 1916.
Wilhelm Dibelius, Englands indische Gefahr. (Internation. Monatsschrift. 1915, Februar.)
Ganga-rao Brahmaputr, Indien, seine Stellung zum Weltkrieg und zu seiner Zukunft. Tübingen
1916.
Graf Ernst zu Reventlow, Indien, seine Bedeutung für Großbritannien, Deutschland und die
Zukunft der Welt. Berlin 1917.
Mohan Lai, Die Bildungsfrage in Britisch-Indien. (NO. III, 1. 6. Oktober 1916.)
Ein eigenartiges Volkstum, das eine alte Geschichte und Kultur durch den
Zusammenhang mit der südarabischen Kultur und dann mit der syrischen Kirche
gewonnen hat, ist im Krieg wieder hervorgetreten, die Abessinier. Sie sind der
Sprache nach Semiten, und zwar ist ihre alte Literatursprache (Äthiopisch oder
Geez) der der südarabischen Inschriften, dem Himjarischen, Sabäischen und
Minäischen, nahe verwandt. Indes handelt es sich hier um ein Gebiet starker
Rassen- und Sprachmischung. Die zahlreichen Sprachen und Völker des heutigen
Abessinien zerfallen in drei Gruppen: semitische (Tigre, Tigrina, Amharisch, die
heutige Staats-, und Verkehrssprache), hamitische (Agau, Afar oder Danakil,
Somali, Galla) und afrikanisch-negroide Sprachen im Westen und Nordwesten
(Barea, Kunama, Sehankella, Suro, Gimirra). Zwischen diesen drei Gruppen sind Blut
mischungen der mannigfachsten Abstufung erfolgt. Ziemlich rein haben sich die
Negervölker erhalten, stärker mit Negerblut gemischt sind die Hamiten, während
die abessinischen Semiten zweifellos Afrikaner sind, die südarabische Kultur
und Sprache angenommen, auch arabisches Blut in sich aufgenommen haben,
aber die verschiedensten Mischgattungen darstellen. Auch die abessinischen Juden,
die Eallascha, sind keine Semiten. Die semitisch redenden Abessinier sind meist
Christen; tatsächlich bestehen religiöse Unterschiede hier nur in Ritual und Volks
bräuchen. Dem besten deutschen Kenner Abessiniens, Prof. Enno Littmann,