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Rudolf Stübe
wird, ist im Grunde nur die Tatsache, daß wir zu einem geeinten Staate geworden
sind, der sich nun als Macht unter den alten Mächten erhoben hat. Wir werden
ins 18. Jahrhundert, in die Zeit Goethes, zurückverwiesen. Ein reiches Kultur
schaffen sei unabhängig vom Staate. Wir sollen uns wieder darauf beschränken,
unsere nationale Kraft in geistigen und künstlerischen Schöpfungen darzustellen,
statt nach Macht und Besitz zu streben. Ob unsere Feinde bereit wären, von ihrer
Macht das Geringste im Interesse der Kultur preiszugeben, wollen wir gar nicht
fragen.
Wie steht es nun in Wahrheit mit dem Zusammenhang von staatlicher Macht
und Kultur ? Die oft aufgestellte Behauptung, die Blüte der Kultur falle oft in
Zeiten politischer Schwäche, hält vor geschichtlicher Betrachtung nicht stand.
Die griechische Kultur des 5. Jahrhunderts ruht auf dem Siege über die Perser,
und wenn griechische Kultur wesentlich athenische Kultur ist, so fällt sie mit der
imperialistischen Politik des Pericles zusammen. Und nur durch Alexanders Taten
ist das Griechentum im Hellenismus zum Führer der Weltkultur geworden. Ebenso
ist es im römischen Weltreiche: erst das von Julius Cäsar neugefügte Reich,
das unter den Kaisern sein geschichtliches Machtwesen völlig entfaltet, hat als
Kulturwelt bleibende Bedeutung. Verfehlt ist auch der Hinweis auf die Renaissance
in Italien. Die italienischen Stadtstaaten sind gar nicht verständlich ohne die starke
politische Energie, die sie erfüllt. Dantes Dichtung ist dessen Zeuge, und in Mac-
chiavellis Ideal der vir tu tritt der Charakter der Zeit am schärfsten hervor. Aber
er begegnet uns ebenso in den heroischen Gestalten Michelangelos und im ganzen,
machtbeseelten Wirken Lionardos. Nur eine Ausnahme scheint es zu geben,
wo politische Machtlosigkeit mit der reichsten Blüte der Geisteskultur zusammen
fällt: Deutschland im 18. Jahrhundert. Wie steht es damit wirklich?
Zunächst bilden Kultur- und Staatsleben eine vielfach verflochtene Einheit.
(Vgl. die Rede des Pericles bei Thuk. II, 35—46.) Die in ihr sich abspielenden Wechsel
wirkungen lassen sich kaum ganz erkennen. Gewiß erwächst die Kultur nicht aus
dem Staate, sie kann auch ohne Machtmittel bestehen. Die ursprünglichen und
mächtigsten Antriebe liegen in den führenden Geistern. Aus den Bedürfnissen
und Bestrebungen des Menschengeistes wächst sie immer wieder selbständig empor.
Kunst, Wissenschaft und Religion sind innerlich freie Schöpfungen; sie vertragen
kein Gesetz, das ihnen äußere Macht auf erlegen könnte.
Und doch wurzelt die Kulturarbeit tief in den realen Verhältnissen. In ihren
Zielen sind Kunst und Wissenschaft frei; aber die Kraft zur Betätigung ruht auch
für sie in der Volksgemeinschaft, in der alle staatlichen, sozialen und wirtschaftlichen
Kräfte zur Wirkung kommen. In Abhängigkeit und Selbständigkeit besteht hier
eine unabsehbare Fülle von Beziehungen zwischen allen Äußerungen des geschicht
lichen Daseins. Und darin besteht das Problem ,,Staat und Kultur' 6 . Denn es liegt
im Wesen wahrer Kultur, daß sie nicht nur einen abgesonderten Bezirk innerhalb
des ganzen menschlichen Lebens bildet, sondern daß sie das ganze Leben in seiner
vollen Weite erfüllen und beseelen will. So kann die Kultur an der größten Form
menschlicher Gemeinschaft, am Staate, nicht vorübergehen, ohne ihn zu durch
dringen und damit den Staat selbst in den Kulturbestand aufzunehmen, Umgekehrt
ist kein Staat bloße Macht; er hat seine festesten Grundlagen in geistigen und sitt-