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Oefele
Krupp
sches Fern
geschütz
denn die deutschen Truppen standen zwischen 30 und 35 Kilometer Luftlinie von
Dünkirchen entfernt und die Geschütze, die selbstverständlich aus absolut sicherer
Stellung feuerten, mußten noch einige Kilometer weiter hinter unserer Front in
Stellung gebracht sein. Die Riesengranaten, die mit größter Treffsicherheit und
durchschlagender Wirkung in die alte Seefestung fielen, waren nach Dünkirchener
Meldungen 38-Zentimeter-Geschosse. Sie wurden von Kanonen abgeschossen, die
eine Schußweite von sicher 40 Kilometern besitzen. Man ward nicht irrig gehen mit
der Vermutung, daß hier weitreichende, großkalibrige Marinegeschütze in Tätigkeit
getreten waren.
Daß diese neue artilleristische Leistung auch schon als Höchstleistung der
weittragenden Flachbahngeschütze zu gelten habe, konnte bei dem nie ruhenden
Fortschreiten des deutschen Geschützbaues mit gutem Recht bezweifelt werden.
Im Gegenteil, man durfte vertrauensvoll einer noch gewaltigeren Weiterentwicklung
entgegensehen.
In weit höherem Maße aber, als man zu vermuten berechtigt war, sind diese
Erwartungen übertroffen worden durch das Kruppsche Ferngeschütz, das bei
der großen Westoffensive der Deutschen im Frühjahr 1918 mit der Beschießung
von Paris auf weit über 100 Kilometer Entfernung seine Probe glänzend
bestanden hat. Mit der Fertigstellung dieser Riesenkanone, durch die das Haus
Krupp seiner Geschichte ein neues, unvergängliches Ruhmesblatt hinzugefügt hat,
hat deutsche Arbeit eine Leistung vollbracht, die niemand nachmacht. Obwohl
der Bau und der Einschuß dieser Geschütze gewaltige Vorarbeiten und lange Vor
bereitung erfordert hat, w r a.r ihr Einsatz doch eine vollkommene Überraschung
für Freund und Feind. In Paris glaubte man bei den ersten Einschlägen an einen
Fliegerangriff ; an eine Beschießung durch Artillerie über die Fronten und das ganze
unbesetzte französische Gebiet hinweg konnte man nicht denken. Erst die aufge
lesenen Sprengstücke belehrten die Pariser, daß die Geschosse von Geschützen
herrührten. Die fortdauernde Beschießung aber brachte bald die Gewißheit, daß
es sich um ein wohlgezieltes Wirkungsfeuer weittragender Ferngeschütze handelt.
Ihre Wirkung zeigt sich neben dem materiellen Schaden, den die einschlagenden
Granaten durch Menschenopfer und beträchtliche Zerstörungen verursachten, in
dem gewaltigen Eindruck, der durch die Fernbeschießung bei der Bevölkerung
hervorgerufen wird. Es steht fest, daß man auf feindlicher Seite der völlig über
raschenden Erscheinung nicht gewachsen ist und keine wirksamen Gegenmaß
nahmen treffen kann. Selbstverständlich kann eine solche außerordentliche Leistung
auch nur von einem besonderen Geschütz vollbracht werden. Und doch ist dieses
neue Kruppsche Wundergeschütz eine Kanone wie alle anderen weitreichenden
Flachbahngeschütze. Aber mit Rücksicht auf die außergewöhnlichen ballistischen
Anforderungen, die an Geschütz und Geschoß gestellt werden, müssen auch deren
konstruktive Eigentümlichkeiten eigen- und neuartig sein. So ist vor allem, um
die ungeheure Schußweite zu erreichen, die Anfangsgeschwindigkeit und die ganze
Fluggeschwindigkeit des Geschosses ganz gewaltig gesteigert. Infolgedessen hat
das Geschützrohr eine Länge, die diejenige der jetzigen größten Marinekanonen
noch wesentlich übertrifft. Das Geschoß braucht zur Zurücklegung seines weiten
Weges nur ein paar Minuten. Dabei erhebt es sich auf seinem Flug in Höhen, die