Volltext: Der Weltbrand Band 3 (3; 1920)

400 Jahren Martin Luther sich von der 
Kirche löste." Die Ernennung wurde erst 
am folgenden Tage veröffentlicht, wahr- 
scheinlich aus Rücksichtnahme auf jenes „er- 
hobene Gefühl". 
Von militärischer Seite waren dem Kaiser 
der Fürst v. Vülow und der Großadmiral 
v. Tirpitz zum Kanzlerposten vorgeschlagen 
worden. Der Kaiser hatte beide abgelehnt, 
Bülow wohl aus Furcht vor der Sozial- 
demokratie, Tirpitz aus innerer Abneigung 
gegen den furchtlosen, aufrechten und ganz 
selbständigen Mann. Wirkliche Männer 
schaltete Wilhelm II. aus den hohen Staats- 
ämtern nach Möglichkeit und aus seiner 
Umgebung ganz und gar aus. Nach Tirpitz' 
späteren Veröffentlichungen war es ihm un- 
möglich, in dem letzten halben Jahre seiner 
eine Audienz beim Kaiser 
zu erlangen. Tirpitz schiebt das darauf, das; 
Bethmann und seine Leute es verstanden 
hätten, den Monarchen gewissermaßen mit 
einem undurchdringlichen Ringe zu um- 
geben. Ein solcher Ring mag wohl be- 
standen haben, aber auch ohne äußere Be- 
einflussung hätte der Kaiser ihn sicherlich 
niemals in das Kanzleramt berufen. 
Der Mann, den er nun berufen hatte, 
war, kurz gesagt, eine Neuauflage Veth- 
mann-Hollwegs. Die Zustände in Deutsch- 
land wurden immer verworrener; der im 
Anfang des Krieges verkündete „Burg- 
friede" war ganz und gar in die Brüche 
gegangen, die Parteien bekämpften sich mit 
Angriff eines feindlichen Fliegers aus niedrigster Höhe auf den bis zuin Ein- äußerster Bitterkeit Und Gehässigkeit, in ver- 
treffen der Reserven heldenhaft ausharrenden kleinen Rest einer Graben- schiedenen Gegenden des Reiches brachen 
besatzuug. Nach einer Zeichnung von Verthold Adolph. immer wieder Streiks llUS, wodurch die 
Waffen- und Kriegsmittelerzeugung großen 
ins Vernehmen gesetzt, dagegen den preußischen Land- Schaden litt. Im Laufe des Jahres 1918 wurde es den 
tag ganz beiseite gelassen — klugerweise, wenn Einsichtigen immer klarer, daß nur die Diktatur eines 
er einmal entschlossen war, die Berufung nach Berlin harten, entschlossenen Mannes das Reich noch retten 
anzunehmen, denn dort würde man ihm jedenfalls konnte, und da Wilhelm II. ein solcher Mann nicht 
deutlich gesagt haben, daß ein großer Teil der Ab- war, hätte er einen Diktator ernennen sollen. In 
geordneten ungern einen Bayern als preußischen Amerika gibt die Verfassung der Präsidentenschaft dik- 
Ministerpräsidenten sehen werde. Mit nicht unbe- tatorische Gewalt, sobald ein Krieg ausgebrochen ist, 
rechtigter Bitterkeit erinnerten auch preußische rechts- und Wilson übte sie mit großer Entschlossenheit aus. 
stehende Zeitungen daran, daß der Zeitpunkt seiner In Frankreich gebot Clemenceau unumschränkt, zer- 
Berufung übel gewählt sei. Am 31. Oktober feierten schmetterte jeden Widerstand, richtete alle Kräfte der 
die Evangelischen Deutschlands voll dankbarer Er- Nation auf ein Ziel. In England herrschte Lloyd 
innerung den 400 jährigen Jubiläumstag der Re- George in derselben Weise. Von König Georg V. 
formation. Gerade am 31. Oktober ernannte der prote- war überhaupt nicht mehr die Rede, und keine der 
stantische Kaiser den bayrischen Zentrumsgrafen zum politischen Größen, die zu Kriegsanfang im Vorder- 
Reichskanzler. „Graf Hertling", sagte die „Kölnische gründe gestanden hatten, besaß jetzt noch Einfluß und 
Zeitung", „ist Parteimann waschechter Farbe, und ein Bedeutung. Nur der eiserne Wille des einen Mannes 
Treppenwitz der Weltgeschichte hat es gefügt, daß bestimmte die Geschicke des Landes. Allein in Deutsch- 
der ehemalige Führer des katholischen Zentrums die land herrschte kein einheitlicher Wille. Es wäre 
Zügel im Reich und in Preußen just in dem Augen- hier vielleicht noch beim Sturze Bethmanns möglich 
blick ergriff, als unsere protestantischen Mitbürger er- gewesen, eine ähnliche Gewalt aufzurichten, und 
hobenen Gefühls den Tag begingen, an dem vor vielleicht wäre auch der rechte Mann dafür zu 
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