Volltext: Der Weltbrand Band 3 (3; 1920)

vorläufig recht kalt ließ. Der Kongreß der Kosaken- 
Vertreter, der gleichzeitig in Petersburg tagte, sprach der 
Regierung sein volles Vertrauen aus und erklärte, er 
werde sie entschieden unterstützen in ihrem Bestreben, 
der Anarchie ein Ende zu machen und werde sie 
schützen wider jede Gegenrevolution. Der Krieg müsse 
weitergeführt werden bis zum vollständigen Siege. 
Inzwischen traten in verschiedenen Landesteilen 
immer schärfer und klarer die Bestrebungen an den 
Tag, sich von dem großrussischen Reiche ganz abzu- 
lösen, Polen war ja durch die deutschen Truppen von 
Rußland losgelöst und von den Mittelmächten als 
selbständiges Königreich ausgerufen worden. Es 
mußte vorläufig als für Rußland verloren gelten. 
Aber nun wollten auch Finnland und die Ukraine 
nicht bei Mütterchen Rußland bleiben. Die finnischen 
Sozialdemokraten, die im Landtage die Mehrheit be- 
saßen, wollten, daß Finnland auf der Stelle ein selb- 
ständiger Staat werde. Die Regierung Kerenskis 
lehnte das ab. Solche Fragen, erklärte sie, könnten 
nur von der konstituierenden Nationalversammlung 
entschieden werden. Viel schmerzlicher aber als die 
Bestrebungen Finnlands waren ihr die Bestrebungen 
der Ukraine, denn die war für das Wirtschaftsleben 
Rußlands von der allergrößten Bedeutung. Das 
reiche Land war die Kornkammer des Reiches, löste 
sie sich ab, so konnte das eigentliche Eroßrußland 
nur schwer sich ernähren. Nun hielten die Ukrainer 
am 19. Juni dem Verbote der Petersburger Regie- 
rung zum Trotz einen ukrainischen Heerestag in 
Kiew ab und beschlossen dort, daß seine Beschlüsse so- 
wohl für die ukrainischen Truppen wie für die Re- 
gierung bindend sein sollten. Die Rada, der Zen- 
tralrat der ukrainischen Stände, veröffentlichte einen 
Aufruf an das ukrainische Volk, worin sie erklärte, 
das ukrainische Volk werde von jetzt an selbst seine 
Existenz ordnen. Darauf erfolgte ein Aufruf der 
vorläufigen Regierung in Petersburg, worin das 
ukrainische Volk davor gewarnt wurde, sich von Ruß- 
land abzusplittern. Kerenski, Terestschenko und Tsere- 
telli reisten selbst nach Kiew, und es gelang ihnen noch 
einmal, eine Trennung der Ukrainer von Rußland zu 
verhindern. Die Rada ließ sich bestimmen, die Selb- 
ständigkeitserklärung der Ukraine vor der Jnsti- 
tuierenden Nationalversammlung zurückzunehmen, ja 
sie sprach sogar die Hoffnung aus, daß die ukrai- 
nische Demokratie im Verein mit der Demokratie in 
ganz Rußland alle Kräfte anspannen werde, um das 
ganze Land und insbesondere die Ukraine zum end- 
gültigen Siege im Sinne der Revolution zu führen. 
Die Entwicklung der inneren Verhältnisse Rußlands 
im Juni kann in kurzen Worten so gekennzeichnet 
werden: Die Abtrennungsgelüste der Fremdvölker 
traten immer schärfer hervor, der bolschewistische Geist 
griff immer weiter um sich, die Unordnung auf allen 
Gebieten wurde immer greulicher und gefahrdrohender. 
Am 12. Juni erklärte der finnische Landtag in erster 
und zweiter Lesung Finnland für selbständig. 
Am 18. Juni wurde der Beschluß auch in dritter Le¬ 
sung angenommen, und zwar mit der gesetzmäßigen 
Zweidrittelmehrheit. Das „Gesetz über die Ausübung 
der höchsten Staatsgewalt in Finnland" lautete: 
„Hiermit sei verordnet: Da die Rechte des Monarchen 
aufgehört haben, soll nach dem Beschluß des Land 
tages folgendes in Kraft treten: § 1. Der Landtag 
Finnlands allein beschließt, bestätigt und bringt in 
Ausübung alle Gesetze Finnlands einschließlich der- 
jenigen, die den Staatshaushalt, die Besteuerung und 
das Zollwesen betreffen. Der Landtag entscheidet end- 
gültig auch alle andern finnländischen Angelegenheiten, 
die der Kaiser und Großfürst nach den bisher gel- 
tenden Satzungen entschieden hat. Die Bestimmungen 
dieses Gesetzes beziehen sich nicht auf Angelegenheiten 
der äußeren Politik und auch nicht auf die Militär- 
gefetzgebung und die Militärverwaltung. § Der 
Landtag tritt ohne besondere Berufung zu ordent- 
lichen Sitzungen zusammen und beschließt, wenn sie 
beendigt sein sollen. Bis die neue Regierungsform 
Finnlands festgestellt sein wird, übt der Landtag 
das Recht aus, nach § 18 der Landtagsordnung über 
Neuwahlen und über die Auflösung des Landtags 
zu beschließen. § 3. Der Landtag verfügt über die 
exekutive Gewalt Finnlands. Die höchste exekutive 
Gewalt soll vorläufig vom Okonomiedepartement 
des finnländischen Senats, dessen Mitglieder der Land- 
tag ernennt, ausgeübt werden." 
Am 19. Juni hielt der Landtag des selbständigen 
Finnland in Helsingfors seine erste Sitzung ab. Die vor- 
läufige Regierung erkannte diese Beschlüsse keineswegs 
an, erhob vielmehr scharfen Einspruch dagegen, löste 
den Landtag auf und schrieb Neuwahlen aus auf 
Anfang November. Der Senat in Helsingfors ver- 
öffentlichte ihr Dekret, aber beinahe wäre es unveröffent- 
licht geblieben, denn nur 7 Stimmen waren für, 6 
gegen die Veröffentlichung. Nachachtung und An- 
erkennung fand es in Finnland nicht. Auch die 
Ukrainer machten wieder große Schwierigkeiten. Der 
Schriftsteller Wienijtschenko, der in der Rada den zur 
Zeit größten Einfluß besaß und ihr Sprecher war 
oder wenigstens als solcher auftrat, erklärte kaltblütig: 
„Es gibt in der Ukraine eine Strömung, die es für 
vorteilhafter hält, den Deutschen die Front zu öffnen, 
als an der neuen großen russischen Offensive teilzu- 
nehmen. Denn die Ukraine erlangt von Rußland 
nicht das, was sie durch eine deutsche Besatzung er- 
langen könnte. Wir besitzen genügend Kraft und 
Autorität, daß auf unfern Ruf einige Millionen 
ukrainische Soldaten die Front verlassen würden." 
Es gelang indessen der vorläufigen Petersburger 
Regierung noch einmal, allerdings unter sehr bedeu- 
tenden Zugeständnissen der selbständigen Verwaltung, 
den Sturm zu beschwören. Dagegen erklärte am 
16. Juni eine esthnische Nationalversammlung in 
Royal, die vorläufige Regierung in Petersburg müsse 
noch vor dem Zusammentritt der Konstituierenden 
Nationalversammlung die Autonomie für alle Völker 
Rußlands ausrufen und in den Behörden der esthni- 
sehen Verwaltung sofort die esthnische Sprache einführen. 
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