Volltext: Der Weltbrand Band 3 (3; 1920)

am 20. Mai eine Eingabe an den Reichskanzler ge- 
richtet, worin sie forderten: Gewinnung eines großen 
Kolonialreiches, ausreichende Kriegsentschädigung uud 
Annexionen in Europa, die allein im Westen zehn 
Millionen Menschen zwangsweise unter deutsche 
Herrschaft stellen würden. Diese Bevölkerung solle 
noch dazu politisch rechtlos gemacht werden, denn 
die Verwaltung solle so geführt werden, „daß die Be- 
wohner keinen Einfluß auf die Geschicke des Reiches 
erlangten". Im Westen solle der Besitz aller großen 
industriellen Unternehmungen, im Osten solle der 
landwirtschaftliche große und mittlere Besitz in deutsche 
Hände übergehen. Endlich habe sogar ein deutscher 
Bundesfürst, der König von Bayern, in einer Rede 
in Fürth Forderungen in bezug auf die Ausdehnung 
unserer Grenzen im Westen ausgesprochen, durch die 
wir für Süd- und Westdeutschland günstigere Be- 
dingungen zum Meere bekommen könnten. Nach 
Aufzählung aller dieser Schandtaten fuhren die drei 
Verfasser fort: 
„Angesichts aller dieser Kundgebungen mutz sich die deutsche 
Sozialdemokratie die Frage vorlegen, ob sie mit ihren Grund- 
sähen und mit den Pflichten, die ihr als Hüterin der ma- 
teriellen und moralischen Interessen der arbeitenden Klassen 
Deutschlands obliegen, vereinbaren kann, in der Frage der 
Fortführung des Krieges an der Seite derjenigen zu stehen, 
deren Absichten in schroffstem Widerspruch sind zu den Sätzen 
der Erklärung unserer Reichstagsfraktion vom 4. August 1914, 
in denen diese aussprach, daß sie im Einklang mit der Inter- 
nationale jeden Eroberungskrieg verurteilt. 
Dieser Satz würde zur Lüge gestempelt werden, wenn die 
deutsche Sozialdemokratie jenen Erklärungen aus den Kreisen 
der Machthaber gegenüber es bei dem Aussprechen akademischer 
Friedenswünsche bewenden Uetze. Zu deutlich haben wir es 
erfahren müssen, datz man auf solche Bekundungen auch nicht 
die geringste Rücksicht nimmt. 
Was verschiedene unter uns befürchtet haben, zeichnet sich 
immer bemerkenswerter ab: man erlaubt der deutschen Sozial- 
demokratie, die Kriegsmittel zu bewilligen, man geht aber 
kühl über sie hinweg bei den für die Zukunft unseres Volkes 
folgenschwersten Beschlüssen. 
Dürfen wir dieses Verhältnis fortbestehen lassen, das uns 
die Möglichkeit raubt, die Kraft der deutschen Arbeiterklasse 
für eine Politik geltend zu machen, die nach unserer innersten, 
auf die Erfahrungen der Geschichte gestützten Überzeugung 
das Interesse des deutschen Volkes und mit diesem das aller 
beteiligten Völker gebietet? 
Ungeheuer sind die Opfer, die dieser Krieg den in ihn 
hineingerissenen Völkern schon verursacht hat und die jeder 
Tag vermehrt. Die Weltgeschichte kennt keinen zweiten Krieg, 
der auch nur annähernd gleich mörderisch gewirkt hätte. Es 
ist die Grausamkeit barbarischer Zeitalter, verbunden mit den 
raffiniertesten Mitteln der Zivilisation, die die Blüte der 
Völker hinrafft. Nicht minder unerhört sind die Opfer an 
Gütern, die der Krieg den Völkern entreißt. Weite Gebiete 
wenden verwüstet, und Summen, die für Kulturzwecke in einem 
Jahr auszugeben man sich gescheut hat, werden in diesem 
Kriege in einer Woche für die Tötung von Menschen und die 
Vernichtung von Grundlagen künftiger Wohlfahrt ausgegeben. 
Allen beteiligten Nationen starrt bei Verlängerung des Krieges 
der Bankerott entgegen. 
In weiten Kreisen unseres Volkes und derjenigen Völker, 
mit denen das Deutsche Reich im Kriege liegt, macht sich denn 
auch immer stärkere Friedenssehnsucht geltend. Während die 
Herrschenden davor zurückschrecken, diesem Friedensbedürfnis 
zu entsprechen, blicken Tausende und aber Tausende auf die 
Sozialdemokratie, die man als die Partei des Friedens zu 
betrachten gewohnt war. und erwarten von ihr das erlösende 
Wort und das ihm entsprechende Verhalten. 
Nachdem die Eroberungspläne vor aller Welt offenkundig 
sind, hat die Sozialdemokratie die volle Freiheit, ihren gegen- 
sätzlichen Standpunkt in nachdrücklichster Weise geltend zu 
mächen, und die gegebene Situation macht aus der Freiheit eine 
Pflicht. Das Proletariat erwartet sicherlich, datz ebenso wie im 
Jahre 1870 sich bei einer ähnlich, n Situation alle Sozial- 
demokraten trotz ihrer Meinungsverschiedenheiten beim Aus- 
bruch des Krieges zu einem einmütigen Handeln zusammen- 
fanden, die Sozialdemokratie auch jetzt in gleicher Einmütig- 
keit zusammenstehen wird. 
Wir wissen, datz Friedensbedingungen, die von einer Seite 
der Kriegführenden der anderen aufgezwungen werden, keinen 
wirklichen Frieden bringen, sondern nur neue Rüstungen mit 
dem Ausblick auf neuen Krieg bedeuten. Ein wirklicher 
und dauernder Friede ist nur möglich auf der Grundlage 
freier Vereinbarung. 
Diese Grundlage zu schaffen ist nicht der Sozialdemokratie 
eines einzelnen Landes gegeben. Aber jede einzelne Partei 
kann nach Matzgabe ihrer Stellung und ihrer Kräfte dazu 
beitragen, datz diese Grundlage hergestellt wird. 
Die gegenwärtige Lage der Dinge ruft die deutsche Sozial- 
demokratie auf, einen entscheidenden Schritt zu diesem Ziele 
zu tun. Sie ist heute vor die Wahl gestellt, diesem Gebote 
Folge zu leisten oder dem Vertrauen einen tödlichen Stotz 
zu versetzen, das sie bisher im deutschen Volk und in der ge- 
samten Welt als Verfechterin des Völkerfriedens genotz. 
Wir zweifeln nicht, datz unsere Partei diejenigen Folge- 
rungen ziehen wird, die sich für unsere parlamentarische und 
außerparlamentarische Haltung hieraus ergeben. Mit den 
schönsten Überlieferungen der Sozialdemokratie steht die Zu- 
kunft unseres Volkes auf dem Spiel, seine Wohlfahrt und seine 
Freiheit. Hat unsere Partei nicht die Macht, die Entschei¬ 
dungen zu treffen, so fällt doch uns die Aufgabe zu, als 
drängende Kraft die Politik in der Richtung vorwärts zu 
drängen, die wir als die richtige erkannt haben." 
Es ist selbstverständlich, daß der Artikel in der 
bürgerlichen Presse große Entrüstung erregte. Aber 
auch sozialdemokratische Blätter lehnten ihn ab, und 
der Parteivorstand erließ eine scharfe Erklärung da- 
gegen, was nun wieder eine ebenso scharfe Antwort 
des gereizten Haase hervorrief. Nun aber veröffent- 
lichte der Parteivorstand eine Denkschrift „Sozial- 
demokratie und Friede". Sie ist von der größten 
Wichtigkeit, denn in ihr ist gewissermaßen amtlich 
niedergelegt, was die Partei, die nach ihrer Ver- 
sicherung die deutschen Arbeiter vertritt, über Krieg 
und Frieden dachte. Und eine noch größere Bedeutung 
erlangte sie dadurch, daß die hier ausgesprochenen 
Gedanken allmählich eine Mehrheit im deutschen 
Reichstage fanden, die sie sich zu eigen machte und 
in ihrem Sinne den Frieden herbeizuführen bestrebt 
war. Das Schriftstück lautete: 
„Fast ein Jahr lang rast nun die Kriegsfurie über den 
Erdball. Hunderttausende blühender Menschenleben sind ver- 
nichtet, unermeßliche Kulturgüter zerstört, ungeheuerliche Ver¬ 
wüstung der Volkskraft angerichtet. Millionen Mütter, Frauen 
und Kinder weinen um ihre Söhne, Männer und Väter, 
Not und Elend gesellen sich zu dem Kummer, der auf den 
Völkern lastet. 
Soll das entsetzliche Drama, wie es grausiger die Weltge- 
schichte nicht kennt, immer noch kein Ende nehmen? 
Die Sozialdemokratie hat diese unheilvolle Weltkatastrophe 
kommen sehen, hat sie vorausgesagt. Deshalb hat sie in allen 
Ländern die imperialistische Ausdehnungspolitik und ihre 
Folge, das verderbliche Wettrüsten, bekämpft, die letzten Endes 
diesen schrecklichen Weltkrieg heraufbeschworen haben. 
Die Sozialdemokratie hat unablässig für eine Verständigung 
der Völker zu gemeinsamer Kulturarbeit im Dienste der Mensch- 
heit gewirkt. Zehntausende von Versammlungen, Millionen 
von Flugschriften, die internationalen sozialistischen Kongresse 
und zuletzt noch die deutsch-französischen Verständigungskon- 
ferenzen in Bern und Basel legen davon Zeugnis ab. 
Als sich im vorigen Jahre dte drohenden Kriegswolken am 
politischen Horizont zusammenballten, hat die deutsche Sozial- 
demokratie bis zur letzten Stunde ihre ganze Kraft eingesetzt 
für die Erhaltung des Friedens. Sie war zum Unglück der 
Völker in allen Ländern noch nicht stark genug, das schreck- 
liche Verhängnis aufzuhalten, das über Europa hereinbrach. 
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