Es war wesentlich Englands Schuld, daß der
Krieg mit jedem Monate mehr einen Charakter an-
nahm, der mit dem bisherigen Völkerrechte nicht in
Einklang stand. Der deutschen und österreichisch-unga-
rijchen Regierung blieb garnichts anderes übrig, als
den Engländern auf diesem Wege nachzufolgen, denn
mehr und mehr begann man in Verlin, Wien und
Budapest einzusehen, daß jede Rücksichtnahme auf
Menschlichkeit und Völkerrecht in England als Zeichen
der Schwäche ausgelegt wurde. England hatte mit
allen Völkerrechtswidrigkeiten gegen Personen und
Sachen den Anfang gemacht. Es hatte Deutsche,
Österreicher und Ungarn, die auf neutralen Schiffen
nach ihrer Heimat reisten, auf englische Schiffe bringen
und dann in Haft abführen lassen, und die Neutralen
hatten das schweigend geduldet. Es hatte alle Lebens-
mittelzufuhr nach Deutschland unterbunden und ebenso
die Zufuhr fast aller anderen Waren, obwohl das der
Londoner Seerechtsdeklaration vollkommen wider-
sprach. Es brachte sogar Schiffe auf, die unter neutraler
Flagge nach neutralen Häfen gingen, weil vermutet
wurde, daß ihre Ladungen für Deutschland bestimmt
waren. Die Neutralen, die kleinen wie die großen,
nahmen auch das hin. Es hatte die Nordsee zum
Kriegsgebiet erklärt und dadurch den Handel der
nordischen Staaten fast lahm gelegt. Dadurch war
Deutschland gezwungen worden, durch seine Auslands-
kreuzer englische Handelsschiffe in den Grund bohren
zu lassen und endlich den furchtbaren Unterseeboots-
krieg zu eröffnen.
Das alles hatte England getan in der sicheren
Hoffnung, daß der Krieg kurz sein werde. Grey und
Genossen hatten angenommen, er werde nur drei oder
höchstens fünf Monate dauern. Dann werde Deutsch-
land Zerschmettert am Voden liegen, Osterreich-Ungarn
vielleicht noch früher. Als es dann ganz anders kam,
zeigte es sich mit jedem Monate mehr, daß England
unter dem, was es heraufbeschworen hatte, viel härter
leiden mußte, als die beiden Mächte Mitteleuropas.
Es hatte bisher die billigsten Brotpreise der Welt
gehabt, und es war immer sehr stolz darauf gewesen.
Jetzt stiegen die Preise des Getreides immer höher,
im Februar 1915 standen sie mehr als doppelt so
hoch als im August 1914. Auch die übrigen Lebens-
mittel mußten immer teurer bezahlt werden. Selbst-
verständlich stiegen auch in Deutschland und Oster-
reich-Ungarn die Preise, aber bei weitem nicht in
dem Maße, wie in England, und die Wirkung der
Teuerung war in England ganz anders zu verspüren.
Sobald nämlich die Preiserhöhung dort fühlbar
wurde, begannen Streiks und Unruhen unter den
Arbeitermassen, und es zeigte sich jetzt, daß der eng-
lische Arbeiter ebensowenig vaterländisches Gefühl
besaß, wie der englische Arbeitgeber. Während draußen
in Frankreich die Heere Englands kämpften, drohten
die Arbeiter in den Munitionsfabriken mit dem Aus-
stände, weil sie den Unternehmern das riesige Ge-
schäft nicht gönnten und die Gelegenheit für günstig
hielten, etwas Erkleckliches aus ihnen herauszuschlagen.
Die englischen Häfen lagen zum Teil voll von Schiffen
mit Getreide und anderen Lebensmitteln, aber die
Waren konnten nicht ausgeladen werden, weil die
Hafenarbeiter sich weigerten, ohne sehr beträchtliche
Lohnerhöhung die Hände zu rühren. Auch die Kohlen-
arbeiter und Bahnarbeiter wurden schwierig und
wollten aus der Bedrängnis des Vaterlandes Ka-
pital schlagen. Den Unternehmern fiel es natür-
lich auch nicht ein, nachzugeben, sondern sie wollten
den Gewinn wie bisher in ihre Taschen leiten, und
so hatte die Regierung die größte Mühe, zwischen
den Streitenden zu vermitteln und den Frieden auf-
recht zu erhalten. Bis Ende Februar gelang ihr
das im großen und ganzen, aber jeder, der Augen
hatte, mußte einsehen, daß die Arbeiterschaft für die
Regierungsmänner eine schwere Gefahr werden konnte.
Da der Mangel an Munition immer fühlbarer wurde
und Amerika immer unverschämtere Preise dafür
forderte, so brachten die leitenden Männer im Parla-
ment ein höchst einschneidendes Gesetz durch, die
Defense of Realm Act. Demnach konnte jede Fabrik
und jedes Unternehmen in Staatsbetrieb übernommen
und zur Erzeugung von Kriegs- und Munitions-
gegenständen verwendet werden. Auf diese Weise
wurde der Staat von den Arbeitgebern unabhängig,
aber nicht von den Arbeitern, deren „Gewerkschaften"
die Höhe der Löhne zu bestimmen sich anmaßten
und stets mit Streiks drohen konnten. Die Arbeiter-
gefahr mußte immer größer werden, je mehr die
Fabriken gezwungen wurden, infolge des Krieges
ihre Arbeiter ganz oder zum Teil zu entlassen, denn
der Versuch, die Massen ins Heer zu überführen, gelang
nur in sehr bescheidenem Maße. Die große Mehr-
zahl der entlassenen Arbeiter wollte doch lieber hungern
und lungern, als ihre Leiber den deutschen Kugeln
aussetzen. Von Millionenheeren hatte Kitchener ge-
sprachen, die im Frühling und im Sommer nach
Frankreich abgehen sollten. Schon jetzt war zu er-
kennen, daß England sehr froh sein mußte, wenn es
mit Hunderttausenden statt mit Millionen antreten
konnte.
In welcher ganz anderen Lage befanden sich doch
in dieser Hinsicht Deutschland und Osterreich-Ungarn!
Ihre Arbeiterschaft war zum großen Teil in der Front
und tat dort redlich ihre Pflicht, und für ihre daheim
gebliebenen Frauen und Kinder sorgte der Staat. Die
aber nicht im Felde standen, taten auch ihre Pflicht
Von Streiks zum Zwecke der Lohnerhöhung war in
der deutschen und österreichisch-ungarischen Arbeiter-
schaft nicht die Rede. In dieser Beziehung waren ja
auch Frankreich und Rußland besser gestellt als Eng-
land, da auch ihre Arbeiterschaft der allgemeinen Wehr-
pflicht unterlag. In Frankreich war außerdem das
nationale Ehrgefühl so hoch entwickelt, daß der dortige
Arbeiter die Not des Vaterlandes nicht zu Erpressungen
benutzte. Die russische Arbeiterschaft wäre ja wohl nicht
nur zu Streiks, sondern zu Revolutionen zu haben ge-
wesen, aber den Versuchen, sie dazu aufzureizen, trat der
Staat mit eiserner Strenge entgegen. Wer dessen irgend
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