Die an der Pilica und Radomka stehenden deutschen Kräfte
waren ernstlich gefährdet. Von Iwangorod her entwickelte
der Feind in Richtung auf die Lysa Gora immer stärkere
Kräfte. Bei Przemysl und am San stand der Kampf. Unter
diesen Umständen mußte das verbündete Heer den schweren,
aber der Lage nach gebotenen Entschluß fassen, die ganze Ope-
ration an der Weichsel und am San, die bei der fast drei-
fachen Überlegenheit des Feindes keine Aussicht auf einen
entscheidenden Erfolg mehr bot, abzubrechen; es galt, sich
zunächst die Freiheit des Handelns wieder zu sichern und
demnächst eine völlig neue Operation einzuleiten. Die ge-
samten zwischen Przemysl—Warschau stehenden Kräfte wurden
vom Feinde losgelöst und bis Ende Oktober in Richtung auf
die Karpathen und in die Linie Krakau—Czenstochau—Sie-
rads zurückgenommen, nachdem zuvor sämtliche Bahnanlagen,
Straßen- und Telegraphenverbindungen nachhaltigst zerstört
worden waren. Dieses Zerstörungswerk wurde so gründlich
ausgeführt, daß die feindlichen Massen nur sehr langsam zu
folgen vermochten und sich die ganze Bewegung der Ver-
bündeten, nachdem einmal die Loslösung gelungen war, plan-
mäßig vollziehen konnte.
Die Russen drangen nur mit Teilen in Galizien ein, ihre
Hauptkräfte folgten im Weichselbogen in südwestlicher und
südlicher Richtung, schwächere Kräfte rückten von Narew beider-
seits der Weichsel in westlicher Richtung auf Thorn vor.
Das Ziel der weiteren Operation der Verbündeten mußte
es sein, die Kraft der großen Offensive der russischen Massen
unter allen Umständen zu brechen. Dies konnte trotz der
großen zahlenmäßigen Überlegenheit des Feindes nur durch
den Angriff erreicht werden; eine starre Verteidigung konnte
nur Zeitgewinn bringen, mußte aber von den gewaltigen feind-
lichen Massen über kurz oder lang erdrückt werden. Der Ope-
rationsplan der Verbündeten war folgender: Die Entscheidung
sollte in Polen und Galizien durch Angriff gegen die im
Weichselbogen und östlich Krakau vorrückenden russischen Haupt-
kräfte gesucht werden, während auf den Flügeln in Ostgalizien
und Ostpreußen die Verbündeten sich gegen die gegenüber-
stehenden erheblichen feindlichen Kräfte defensiv verhalten
sollten. Für die Entscheidung in Polen galt es, alle an an-
derer Stelle irgend entbehrlichen Kräfte zusammenzufassen.
Das äußerst langsame Folgen der Russen gab die Zeit zu der
notwendigen neuen Versammlung der Kräfte. In Galizien
standen starke Kräfte der österreichisch-ungarischen Armee.
In Südpolen wurde in der Gegend von Krakau und der
oberschlesischen Grenze eine starke, aus österreichisch-ungarischen
und deutschen Truppen bestehende Gruppe gebildet; eine zweite
starke, nur aus deutschen Truppen gebildete Gruppe unter
Befehl des Generals V.Mackensen wurde teils durch Fußmarsch,
teils durch Bahntransport an der Grenze zwischen Wreschen
und Thorn versammelt. Ihre Aufgabe war es, die unmittel-
bar südlich der Weichsel zwischen dieser und dem Ner-Warthe-
Abschnitt vordringenden schwächeren russischen Kräfte zu schla-
gen, um dann von Norden her gegen die rechte Flanke der
russischen Hauptkräfte vorzugehen, deren Fesselung Aufgabe
der südlichen Gruppe war. Eine schwächere Gruppe war zum
Schutze Westpreußens nördlich der Weichsel in der Gegend
Strasburg-Soldau versammelt.
Gegen Mitte November waren die an der ostpreußischen
Grenze, im Weichselbogen und in Galizien versammelten rus-
sischen Streitkräfte etwa folgendermaßen verteilt:
8. und 9. Armeekorps — die 10. Armee — standen an der ost-
preußischen Grenze zwischen Schierwindt und Biala, schwächere
Kräfte, 3. und 4. Armeekorps, mit einigen Kavalleriedivisionen,
rückten zwischen der ostpreußischen Südgrenze und der Weichsel
gegen Mlawa und Thorn vor, südlich der Weichsel standen,
gegen Thorn beobachtend, zwischen Wloclawek und Dombie
2. und 3. Armeekorps; diese beiderseits der Weichsel vorgegan-
genen Kräfte gehörten zur ersten russischen Armee. Anschließend
an diese hatten die russischen Hauptkräfte, und zwar die 2.,
5., 4. und 9. Armee — etwa 25 Armeekorps — mit zahlreichen
Kavalleriedivisionen die Linie Uniewo—Zdunska—Wola—
Nowo-Radomsk-Gegend nördlich Krakau erreicht und begannen
mit den nördlichen beiden Armeen nach einem längeren Halt
an der Warthe diesen Abschnitt zu überschreiten. Südlich der
Weichsel in Galizien gingen die übrigen russischen Armeen vor.
Sämtliche im Innern noch verfügbaren Kräfte, vor allem die
sibirischen und kaukasischen Korps, waren herangezogen, so daß
die Gesamtstärke der zu der großen Offensive gegen Deutsch-
land und österreichisch Schlesien bestimmten russischen Streit-
kräfte auf annähernd 45 Armeekorps mit zahlreichen Reserve-
divisionen geschätzt werden kann.
Mitte November begannen die Russen auf der ganzen
Linie ihre groß angelegte Offensive; Angriffe gegen die ost-
preußische Grenze, insbesondere bei Stallupönen, Eydtkuhnen
und Soldau, wurden indes nach sehr heftigen Kämpfen ab-
gewiesen. Der russischen Offensive in Polen kam der etwa
gleichzeitig einsetzende Angriff der Deutschen zuvor. Am 13.
und 14. November wurde ein russisches Armeekorps bei Wlo-
clawec geschlagen und ihm zahlreiche Gefangene abgenommen.
Zwei weitere zu Hilfe eilende Korps erlitten am 15. bei Kutno
eine entscheidende Niederlage. 28000 Gefangene wurden ge-
macht und zahlreiche Geschütze und Maschinengewehre erbeutet.
Während schwächere deutsche Kräfte unter General v. Morgen
die Verfolgung dieser in östlicher Richtung ausweichenden
Kräfte übernahm, schwenkte die Masse der Armee Mackensen
nach Süden ein und ging beiderseits Lenczyoa über den Ner-
Abschnitt vor, nachdem es zuvor gelungen war. ein bei Dombie
stehendes russisches Korps zu schlagen. Infolge dieser Be-
drohung ihrer rechten Flanke waren die Russen gezwungen,
ihren rechten Flügel (die 2. Armee) in die Linie Strykow—
Kasimierz—Zdunska—Wola, Front nach Nordwesten, zurück-
zuschwenken; in diese Linie wurde nach und nach auch noch
die Masse der von Süden herangeholten 5. Armee gezogen,
so daß nunmehr in der Mitte der russischen Linie eine erheb-
liche Lücke zwischen der 5. und 4. Armee entstand.
Den über den Ner-Abschnitt in der allgemeinen Richtung
Lodz unaufhaltsam vordringenden Deutschen gelang es, schon
am 17. November den wichtigen Straßenknotenpunkt Zgierdz
zu nehmen; am 18. wurde hex feindliche rechte Flügel von
Strykow bis gegen die Straße Brzeziny—Lodz zurückgeworfen.
Die um Lodz auf engem Räume vereinigte 2. und 5. russische
Armee wurde in den nächsten Tagen von dem zunächst über
Brzeziny in südlicher Richtung, dann über Tuszyn in süd¬
westlicher Richtung vordringenden linken deutschen Flügel zu-
erst von Osten, dann auch von Südosten eingeschlossen, wäh-
rend schwächere von Posen und Breslau herangezogene Teile
und Kavallerie den Feind von Westen und Südwesten um¬
faßten. Fast schien es jetzt, als ob die Verbündeten das Ziel
ihrer ursprünglich nur auf die Abwehr der feindlichen
Offensive gerichteten Operationen trotz der großen Uberlegen-
heit des Gegners höher stecken könnten, als ob die Vernich-
tung des Feindes erreicht werden könne, — da trat uner-
wartet ein Rückschlag ein; — es gelang den Russen, den um-
klammerten Armeen im letzten Augenblick von Osten und Süden
Hilfe zuzuführen. Teile der an der ostpreußischen Grenze be-
findlichen russischen Kräfte sowie die nördlich der Weichsel
zurückgehenden Korps der russischen 1. Armee waren teils
durch Fußmarsch, teils durch Bahntransport über Warschau—
Skierniewice in der Gegend westlich Skierniewice vereinigt.
Diese Kräfte gingen jetzt im Verein mit stärkeren von Süden
anrückenden Truppen (anscheinend Teile vom rechten Flügel
der 4. Armee) gegen den Rücken der mit der Front nach Westen
und Nordwesten im Kampfe stehenden deutschen Truppen vor,
drohend, diese ihrerseits zu umklammern, nachdem sie die nach
Osten und Südosten entsandten deutschen Sicherungstruppen
zurückgeworfen hatten. Die Lage der Deutschen war ernst;
von den in Richtung Lowicz vorgedrungenen Truppen des
Generals v. Morgen war Hilfe nicht zu erwarten, da diese
nach mehreren glücklichen Kämpfen westlich Lowicz auf stark
überlegenen Feind gestoßen waren. Das Schicksal der von
mehrfacher Überlegenheit umzingelten deutschen Truppen öst-
lich Lodz ließ Ernstes befürchten. Allein die tapfere kleine
deutsche Schar gab ihre Sache keineswegs verloren; eine kühne,
in der Kriegsgeschichte bisher einzig dastehende Tat sollte
sie retten; sie sprengte den eisernen Ring. In der Nacht vom
24. zum 25. November schlugen sich die Truppen in der Rich-
tung auf Brzeciny durch, wobei es ihnen gelang, den sie hier
einschließenden Feind gefangen zu nehmen. Uber 12000 Ge-
fangene und zahlreiche Geschütze und Maschinengewehre fielen
ihnen in die Hände. Die eigenen Verluste waren Verhältnis-
mäßig gering; fast sämtliche Verwundete konnten mitgeführt
werden. Durch diese Heldentat, deren Gelingen neben der
unvergleichlichen Tapferkeit der Truppen das bleibende Ver-
dienst einer entschlossenen und tatkräftigen Führung ist, wurde
die scheinbar verlorene Lage zu einer für die deutschen Waffen
siegreichen. Es gelang den umklammert gewesenen Truppen,
bis zum 26. November zwischen Lowicz und Lodz den An-
schluß an den linken Flügel der Lodz von Norden umschließen-
den Truppen des Generals v. Mackensen wiederzugewinnen.
Die deutsche Front erstreckte sich jetzt von Szadek über
Kazimierz — nördlich Lodz — Glowno bis in die Gegend
nordwestlich Lowicz. Gegen diese Front richtete sich nunmehr
178