sich zwar mit dem Mute der Verzweiflung und legte
eine Tapferkeit und Zähigkeit an den Tag, die be-
wunderungswürdig war, aber der Zustand der Armee
und des Landes wurde mit jedem Tage unerträglicher.
Geldnot und Mangel an Lebensmitteln herrschten
überall, auch an Munition begann es zu fehlen. So
klang denn ein Notschrei nach dem anderen an das
Ohr der Russen, und das trieb sie vorwärts, obwohl
in dem ungeheuren Heere die Cholera wütete und
bei dem schauderhaften Zustande des russischen Sanitäts-
wesens die schwersten Opfer forderte. Sie traten den
Zug nach Westen an, natürlich mit der Langsamkeit,
die allen russischen Offensivbewegungen eigen ist. Da-
bei war Przemysl im Wege, denn, wenn auch das
Russenheer daran vorbeiziehen konnte, so durfte es
die starke Festung doch nicht in seinem Rücken lassen.
Darum sollte es von den russischen Massen über-
rannt und nach furchtbarer Beschießung erstürmt wer-
den, also ein Schicksal haben wie Lüttich. Aber was
dem Jupiter erlaubt ist, das ist bekanntlich anderen
lebenden Wesen nicht erlaubt. Der russische Führer
war kein Emmich, und in der Festung komman-
dierte kein belgischer Gouverneur, sondern ein höchst
tatkräftiger, umsichtiger und tapferer Offizier, der
Feldmarfchalleutnant Kusmanek, und die Truppe,
die unter seinem Befehl stand, erwies sich als eine
Schar von Helden. Die Russen erreichten nichts,
obwohl sie die Festung Tag und Nacht beschossen
und Sturm auf Sturm unternahmen. Wohl noch
niemals in der Weltgeschichte hat ein solches Morden
und Würgen um eine Festung stattgefunden wie um
Przemysl. Nachdem Tausende von Russen bei dem
vergeblichen Stürmen ihr Leben eingebüßt hatten,
wobei zuweilen Hunderte auf einmal durch Flatter-
minen in die Lust gesprengt wurden, wollten die
Scharen nicht mehr vorwärts gehen in den sicheren
Tod. Da ließen die Führer Maschinengewehre im
Rücken der eigenen Bataillone auffahren und trieben
sie dadurch vorwärts, denn den russischen Großfürsten
oder General kümmert das armselige Menschenmaterial
nicht, das er kommandiert. Das Volk muß sich's zur
Ehre schätzen, für Väterchen zu sterben, und es ist
ja im Überfluß vorhanden! Die so vorwärts Getrie-
benen fochten dann allerdings wie Verzweifelte, denn
sie sahen vor sich und hinter sich den Tod. Eine
große Menge der bedauernswerten Menschen verfielen
dabei dem Wahnsinn; die Österreicher wunderten
sich über den hohen Prozentsatz von Wahnsinnigen
unter denen, die sie zu Gefangenen machten. Aber
das alles führte nicht zum Ziele, obschon die Russen
hie und da bis in die Laufgräben der Festung ge-
langten und erst nach mörderischen Einzelkämpfen
wieder hinausgeworfen werden konnten. Przemysl
hielt sich, und die russischen Führer sahen sich ge-
nötigt, am 9. Oktober das Stürmen einzustellen. Ein
österreichisch-ungarisches Ersatzheer war herangerückt
und suchte in schweren und erfolgreichen Kämpfen
der belagerten Festung Hilfe zu bringen, durchbrach
und zersprengte an mehreren Stellen die russische
Umfassungslinie und warf Verstärkungen hinein. Am
15. Oktober zogen die Russen ganz ab, nachdem sie
vor den Wällen der unbezwungenen Feste über siebzig-
tausend Menschen nutzlos aufgeopfert hatten.
Nicht nur die Erfolge des Ersatzheeres und die
Fortschritte der Verbündeten in Polen zwangen sie
dazu, den westlichen Teil Galiziens wieder zu räumen,
sondern vielmehr noch die Cholera, die ihre Reihen
lichtete, und am meisten der Munitions- und Proviant-
mangel, der eingetreten war. Jetzt rächten sich alte
russische Sünden. Die Petersburger Machthaber hatten
den Bahn- und Wegebau in Polen absichtlich ver-
nachlässigt. Sie hatten es nicht gewollt, daß die un-
sichere Provinz einen großen kulturellen Aufschwung
nähme, nun mußten sie die bitteren Früchte ihrer
Handlungsweise ernten. Die wenigen Bahnstrecken,
die vorhanden waren, reichten nicht dazu aus, ein Heer
von einigen Millionen Menschen und hunderttausend
Pferden mit allem Nötigen zu versehen. Zerstörten nun
gar die von Westen hervordringenden Deutschen eine
der Bahnen — und dem verwünschten Hindenburg und
seinen Leuten war ja alles zuzutrauen —, so konnte
das Russenheer in die fürchterlichste Lage geraten.
Ebenso wenig vom Glück begünstigt waren ihre
Versuche, über die Karpathen nach Ungarn einzu-
dringen. An mehreren Stellen unternahmen sie den
Übergang über das gewaltige Gebirge. Auf Schleich-
wegen drangen sie am 4. Oktober am Uzsogerpaß in
das Ungar- und Bergerkomitat ein, schlugen die
ungarischen Truppen zunächst zurück und folgten
ihnen bis Csontos. Dort aber erhielten die Ungarn
Verstärkungen und bereiteten den Eindringlingen
eine schwere Niederlage. Die Russen büßten mehrere
Geschütze und Maschinengewehre ein, verloren über
3000 Gefangene und flohen über den Paß in wilder
Hast aus dem Lande.
Den Hauptstoß richteten sie auf das Komitat Mar-
maros. In Sziget, der Hauptstadt des Bezirkes,
hatte ein halbes Jahr vorher der Aufsehen erregende
Hochverratsprozeß stattgefunden, der es der Welt
enthüllt hatte, wie Rußland auf öfterreichisch-ungari-
schem Boden den Krieg vorbereitete. Kein Wunder
also, daß sie hier den Eingang nach Ungarn suchten.
In dem Komitat sind die Ruthenen in der Überzahl,
auch 70000 Rumänen wohnen dort. Um diesen Teil
der Bevölkerung für sich zu gewinnen, hielten die
Russen strenge Manneszucht. Alles Plündern war bei
schwerer Strafe verboten. Aber wenn sie gemeint
hatten, die Ruthenen würden sie als Befreier be-
grüßen, vielleicht sogar sich zu ihren Gunsten erheben,
so sahen sie sich schwer enttäuscht. Verräter gab es
ja und nicht wenige, ohne Verrat wäre überhaupt
kein russisches Heer über die Karpathen gekommen.
Aber der ruthenische Landsturm blieb seinem Fahnen-
eide treu und fügte ihnen, vereint mit den ungari-
schen Honved-Truppen, am 7. und 8. Oktober eine
schwere Niederlage zu. Sziget, das sie schon besetzt
hatten, mußten sie wieder räumen, und am 9. Oktober
verließen sie in wilder Flucht das Komitat.