Die österreichisch-ungarische Armee hatte sich nach
der Schlacht bei Lemberg, weil sie der erdrücken-
den Übermacht des Feindes nicht gewachsen war, in
westlicher Richtung zurückgezogen. Sie war in ihrer
neuen Stellung durch erhebliche deutsche Truppen-
Massen verstärkt worden. Im
Verein mit diesen deutschen
Truppen war sie noch in den
letzten Septembertagen zu
einer kräftigen Offensive über-
gegangen — ein sicheres Zei¬
chen dafür, daß sie keine Nieder-
läge erlitten hatte, wie die
Russen fabelten, sondern daß
ihre Kraft vollkommen un-
gebrochen war. Zum ersten
Male in diesem Kriege fochten
also hier Deutsche und Oster-
reicher Schulter an Schulter ge-
gen den gemeinsamen Feind,
ein Vorgang, der in beiden
verbündeten Ländern die höch-
ste Begeisterung hervorrief. Die
„Wiener Allgemeine Zeitung"
sprach allen Deutschen, Oster-
reichern und Ungarn aus der
Seele, als sie darüber schrieb:
Es ist eine Nachricht, die allgemein ein frohes Empfinden
auslöst. Gewiß ist dieser ganze Krieg eine fortwährende Ve-
stätignng des Bündnisses beider Nationen und ihres felsenfesten
Entschlusses, in festem Zusammenschluß auszuharren, bis die
Feinde ganz niedergeworfen sind. Aber wenn man so liest,
wie an der Weichsel deutsche und österreichisch - ungarische
Truppen sich die Hände reichen, so empfindet man das als den
sinnfälligen Ausdruck der
Waffenbrüderschaft. In
der ganzen Bevölkerung
flammt eine neue Vegeiste-
rung auf, und die Zuoer-
ficht auf den nahen und
endgültigen Sieg regt sich
kräftiger."
Das vereinte Vor-
gehen zeitigte in der
Tat die außerordent-
lichsten Erfolge. Das
österreichisch -ungarische
Kriegspresse - Quartier
konnte schon am 29Sep-
tember die folgende
Meldung ausgeben:
„Angesichts der von den
verbündeten deutschen und
österreichisch- ungarischen
Streitkräften eingeleiteten
neuen Operationen sind
beiderseits der Weichsel rück-
gängige Bewegungen des
Feindes im Zuge. Starke
russische Kavallerie wurde
unsererseits bei Viecz zersprengt. Nördlich der Weichsel werden
mehrere feindliche Kavallerie-Divisionen vor den verbündeten
Armeen hergetrieben."
Anfang Oktober folgte dann eine Reihe derartiger
Erfolge der verbündeten Truppen, daß die russische
Feldzeugmeister Potiorel,
der Führer der österreichisch-ungar. Armee gegen die Serben.
ren.
Das Gebetbuch als Lebensretter: Die durchschlagenen Seiten des
Gebetbuches mit der steckengebliebenen Schrapnellkugel.
Ein schlesischer Landwehr-Unteroffizier, der gegen die Russen gekämpft, hat
sein Leben dem Umstände zu verdanken, daß die russische Schrapnellkugel,
die ihm Kochgeschirr und Tornister durchschlagen, in dem Gebetbuch stecken«
blieb, das ihm seine Mutter vor dem Auszug ins Feld noch zugesteckt hatte.
Armee dadurch zum Rückzug aus Galizien gezwungen
wurde. Am 4. Oktober wurden die russischen Garde-
schützen bei Opatow und Klimontow auf die Weichsel
zurückgedrängt. Am 5. Oktober fand ein heißes Ee-
fecht bei Sadom statt, wo russische Truppen, die von
Jwangorod vorgestoßen wa-
ren, unter schweren Verlusten
zurückgeworfen wurden, am
6. Oktober eroberten öster-
reichisch-ungarische Truppen
den Weichselbrückenkopf an der
Mündung des San beiSando-
mir, und als die Russen die
Weichsel in der Richtung auf
Opatow zu überschreiten ver-
suchten, wurden sie zurück-
getrieben.
Dieses kraftvolle Vordrin-
gen der österreichisch-unga-
rischen Armee im Verein mit
den deutschen Truppen war
für die Russen eine böse Uber-
raschung. Sie hatten ganz
ernstlich gemeint, bei Lemberg
gesiegt zu haben, weil die
TruppenKaiserFranzJosephs
vor ihnen zurückgewichen wa-
Sie hatten auch bereits die Kunde ihres Sieges
in alle Welt hinaus erklingen lassen. Run wollten
sie ihren alten Plan aufnehmen, mit der Hauptmacht
nach Westen ziehen und in Deutschland einfallen, mit
einem Teile ihrer ungeheuren Armee über die Kar-
pathen rücken, in Un-
garn einbrechen und
den hartbedrängten
Serben die Hände rei-
chen. Sie wußten wohl,
daß es hohe Zeit war,
ihren Verbündeten im
Westen und im Süden
Hilfe zu bringen, wenn
sie nicht ihr militärisches
Ansehen bei beiden ver-
lieren wollten.
Frankreich hatte sch on
die schwersten Verluste
erlitten und erwehrte
sich mühsam der deut-
schen Überflutung. Mit
Bitterkeit, der eine gute
Dosis von Verachtung
beigemischt war, frag-
ten jetzt die französischen
Zeitungen, warum sie
den moskowitischen Freunden einen großen Teil ihres
Nationalvermögens anvertraut hätten, wenn diese nicht
imstande seien, mit ihren Millionenheeren ihnen Luft zu
verschaffen, und im Lande der edlen Karageorgewitsche
sah es noch viel schlimmer aus. Das serbische Heer wehrte
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