Volltext: Der Sammler 11. Jahrg. 1915 (1915)

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zeugte der gestrenge Herr und war Baudirektor 
der Stadtpfarrkirche. Schau dir ihn gut an — 
— bitte, meine Herrschaften, nicht drängen, 
jeder kommt an die Reihe I ja, sehen Sie 
sich ihn gut an, junger Mann, er ist einer der 
wenigen, der es jetzt schon weiß, wo er einmal 
zum langen Schlaf sich niederlegen wird, denn 
I er ließ für sich und seine ehrsame Hausfrau 
unter dem Hochaltar der Pfarrkirche bereits die 
Gruft ausmauern. 
Sollen wir alle nennen, die dem Kopfe 
des langen Menschenwurms Ansehen und Wür 
digkeit gaben? Nein I Allzu umfangreich würde 
das Personenverzeichms werden. Immerhin 
aber wollen wir diesen und jenen noch heraus 
greifen, der nicht übersehen werden darf. 
Dieser hier ist der Freiherr von Meggen 
hofen, Herr auf Teufenbach; er kam mit seinen 
zwei Talerschimmeln schon um 6 Uhr früh an 
gefahren. 
Jener dort benamset sich Johann Wolf 
gang Mayer, seines Amtes Schloß-Sekretarius; 
auch den neuernannten Pflegschaftskommissarius 
und ehemaligen Landgerichtsschreibdr, Baltasar 
Theodor Püsser, erblicken wir in seiner drei 
Monate alten Würde. 
Wiederum sehen wir zwei Freiherren; den 
General von Flischbach und den Johann Abra 
ham Freiherrn von Ort auf Urschenbach und 
Kolenburg und Weihmörting, gewaltige Grund 
herren. — 
„Und Bauernschinder!" brummt einer 
hinter uns, doch wir hören nicht auf den un 
guten Spötter. 
Den Schulkinderzug bewacht Herr Franz 
Ignaz Glöckner, deutscher und lateinischer Schul 
meister hiesiger Stadt. 
Mit dem Meßner Johann Georg Volkner 
beschließen wir vorläuftg das Gucken durch die 
Schaulöcher. 
Der Turmermeister Wolf Weiß geht uns 
füglich nichts mehr an, denn er saß am Linzer- 
tvrturm und schrie erst, als es schon zu spät war. 
Die Menge aber, die wir noch sehen, die 
zählte ums Jahr 1724 noch weniger als es 
heute der Fall ist. Gestützt auf diese betrübliche 
Tatsache schweigen auch wir, um keinerlei Re- 
krimationen und zensorische Fürhaltungen zu er 
fahren. Friedrich Nietzsche, der große Philosoph 
und Menschenverächter, sprach 160 Jahre später 
von den „Biel zu Vielen". 
Der Geschichtenschreiber anno 1724 dürfte 
ein Vorläufer dieses listigen Herren gewesen 
sein, denn er ließ uns, wie schon angedeutet, 
über die Eigenart der Menge im Unklaren. An 
meinem nachgrüblerischen Fleiße liegt es also 
nicht, wenn auch ich den geheimnisvollen 
Schleier des Nichtwissens über die Vielen breite 
Genug davon: es waren viele! Doch dies soll 
nicht vergessen sein: die ehrsamen Zünfte mit 
ihren Meistern, Gesellen und Lehrlingen und 
mit ihren Fahnen und Standarten waren auch 
dabei und schufen so das notwendige Schau- 
gepränge. 
* * 
* 
Man war beim vierten Evangeliumaltar 
angelangt. Er stand dort, wo er heute noch 
steht, wenn die weißgekleideten Mädchen mit den 
Stöckelschuhen und in der Pracht ihrer Ringel- 
locken über die grasbestreuten Gassen trippeln: 
beim Hause Nr. 69, in welchem heute ein guter 
Tropfen Wein zu haben ist und welches damals 
das Haus unter dem Schrod hieß, auf dem das 
Stadtkochgeschäft betrieben wurde. 
— — — Auf den Knien lag 
die betende Schar, ein silbernes Klingeln tönte 
vom Altar, der Bürgergarde - Hauptmann hatte 
den Säbel gezogen und kommandierte seiner 
Kompagnie: „Feuer I" 
Und lustig krachten die alten Flinten in 
den schönen Vormittag hinein. In schräger 
Richtung zielten die Wackeren über das Jam 
merbauerische Hausdach, welches heute das Feich- 
tingerische Magazin deckt. Welch schöne Ziel 
scheibe ist doch so ein frühsommerliches, , blitz 
blaues, feiertäglich angehauchtes Hinimelszelt I 
* * * 
Warum hatte der Hausknecht des Herrn 
Jammerbauer, Handelsmann am Hause Nr. 61, 
die Dachluken nicht zugemacht? 
Was soll diese unnütze Frage? 
Warum hatte Herr Jammerbauer — dein 
Name ist ein Omen und zwar kein gutes — 
warum, fragen wir, hatte dieser brave Handels 
mann seine Pulverfässer nicht zugedeckt und für 
sorglich verwahrt? 
Was soll diese neugierige, zudringliche 
Fragerei? Uebrigens, warum hat der Feuer 
löschmeister diese Frage nicht gestellt, und zwar 
vor dem 18. Juni 1724. Jetzt, anno 1915, 
kommt dieses Interesse etwas verspätet, obwvhl 
auch in dieser neuesten Zeit etwelche Pulver 
fässer in die Luft geflogen sind. 
Doch, wir lassen uns das Recht der 
Fragestellung nicht verkümmern! wir fragen 
weiter: 
Warum ist bei dieser herrlichen, wunder 
vollen Schießerei, die ausnehmend gut klappte 
— nur sieben Mann schossen nach — eine Pa 
trone just durch dieses verdammte offene Dach 
fenster geflogen und warum endlich mußte diese 
glühende Pappendeckelhülse ausgerechnet in das 
nichtzugedeckte Pulverfaß fliegen? 
Warum? Warum? Warum? 
Kinder und Narren, Poeten und anderes 
neugieriges Gelichter fragen. Der biedere, in 
sich gefestigte Charakter gibt sich mit der Tat 
sache zufrieden. Er fragt nicht lange „warum", 
sondern sagt kurz und bündig: „darum!" Der 
Chronikschreiber und sein Nacherzähler mögen
	        
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