Volltext: Nr. 2 1933 (Nr. 2 1933)

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Sltis an der Donau, Aevrunr 1933. 
11. ^ckOroono. 
Me Genfer Tragödie. 
Am 11. Dezember 1602, in einer dunklen Winter- 
nacht, versuchten die Truppen des Herzogs von Savoyen 
einen Handstreich gegen die befestigte Stadt Genf, Boll- 
werk der Reformation und Zufluchtsstätte der euro- 
peitschen Protestanten. 
Dieses Ereignis ist ein berühmtes Kapitel in der Ge- 
schichte der Stadt und wird Escolade oder Ueberklette- 
rung genannt, denn die Savoyer, würdige Vorläufer der 
modernen Techniker, hatten eine neue Waffe erfunden, 
von deren Vorhandensein die Genfer nichts ahnten. Zu 
Beginn des siebzehnten Jahrhunderts sollte also das 
Überraschungsmoment ebenso zur Anwendung kommen, 
wie es nach Ansicht unserer Generalstabsstrategen beim 
nächsten „letzten" Kriege auf den Plan treten wird. Die 
Savoyer hatten ein kunstvolles System von Leitern er- 
dacht, deren Enden ineinandergefügt werden konnten 
und von denen heute noch einige Exemplare im Genfer 
Museum aufbewahrt werden. Diese Leitern, die an der 
Stadtmauer hochgerichtete worden waren, sollten es den 
Angreifern möglich machen, sie zu übersteigen und die 
ahnungslose Bevölkerung mitten im tiefften Frieden 
nächtlicherweile zu überraschen. 
In der Tat überkletterten eine gewisse Anzahl Savoyer 
die Stadtmauern und es folgte ein wilder Straßenkampf, 
in dem wohl der Feind zurückgedrängt werden konnte, der 
aber auf der Seite der Genfer 17 Todesopfer forderte. 
Die Namen dieser Opfer sind auf einer Gedenktafel ver¬ 
ewigt und ihr Heldentod für die Baterstadt wird jedes 
Jahr festlich begangen. 
Am 9. November 1932 gab es wieder Tote und Ver- 
mundete in den Straßen von Genf. Diesmal aber han- 
delte es sich nicht mehr um einen feindlichen Ueberfall, 
sondern um den Anfang eines Bürgerkriegs: Die Ord¬ 
nungspartei sah — oder glaubte — sich gezwungen, mili¬ 
tärische Hilfe anzurufen. 13 Tote und 65 Verwundete 
waren das Ergebnis. 
Die Ereignisse vom 9. November haben in der ganzen 
Welt ungeheuren Widerhall gehabt. Die Vertreter der 
großen Tageszeitungen, die anläßlich der verschiedenen 
diplomatischen Besprechungen in Genf anwesend waren, 
griffen diesen Zwischenfall freudig auf, der an Interesse 
alles überstieg, was man in den freudelosen Sälen der 
Abrüstungskonferenz zu hören bekam. Lange Depeschen 
gingen von Genf ab, die neben handgreiflichen Irr- 
tümern auch manche Wahrheit enthielten, die für die 
Genfer Behörden wie für die Schweiz nicht eben 
'chmeichelhast waren. Genf, die Friedensstadt, wurde 
Mötzlich mit der Mandschurei verglichen. Die Zeitungs- 
eser der Weltstädte sahen die Genfer Kathedrale und das 
Völkerbundsgebäude schon in Flammen stehen; kurz, es 
war die Sensation des Tages. 
Wer die Geschichte von Genf genauer kennt, die schon 
vor Calvins Zeiten an politischen Streitigkeiten, Volks¬ 
auflaufen und blutigen Zusammenstößen reich war, wird 
sich nicht wundern, daß es wieder einmal zu Unruhen 
gekommen ist. Eine Zeitungshetze, die von links und von 
rechts mit unerhörter Schärfe geführt worden war, hatte 
die Gemüter derart erregt, daß eine gewaltsame Ent- 
ladung unvermeidlich schien. 
Für die Kriegsteilnehmer ist aber eine Seite dieser 
Ereignisse von besonderer Bedeutung und sie hat auch 
verschiedene Augenzeugen, die im Weltkrieg gekämpft 
haben, aufs höchste erregt. Sie wußten aus Erfahrung, 
was es heißt, mit modernen Waffen umzugehen; sie kann- 
ten die verheerende Wirkung dieser Mordwerkzeuge und 
die furchtbaren Wunden, die sie hervorrufen. Um so 
größer war ihre Empörung, daß man Kriegswaffen gegen 
eine wehrlose Menge von Zivilpersonen gerichtet hatte, 
und dies unter immerhin recht außergewöhnlichen Begleit- 
umständen. Man hatte die Unklugheit begangen, »"ine 
Rekrutenschule herbeizurufen, um bei der Aufrechterhal- 
tung der Ordnung mitzuwirken. Es waren diesen jungen 
Soldaten Waffen anvertraut worden, deren Wirkung sie 
selber kaum ahnen konnten. Die Genfer Polizei ist 
zahlenmäßig schwach. Außerdem besitzt sie nicht die Macht- 
mittel, die der Schutzpolizei in großen Städten zur Ver- 
fügung stehen. Und zu guter Letzt faßte man einen Be- 
schluß, der von der allgemeinen Kopflosigkeit zur Genüge 
Zeugnis ablegt. Von der Polizei, die klug genug war, von 
ihren verhältnismäßig harmlosen Waffen keinen Gebrauch 
zu machen, ging man sofort zum Militär über, das nur 
mit den modernen Todeswerkzeugen als einzigem Ver- 
teidigungsmittel ausgerüstet war. So kam es zum un- 
vermeidlichen Blutbad, dessen Ursache in der allgemeinen 
Dummheit und Berftändnislosigkeit zu suchen ist. 
Infolge höchst mangelhafter Strategie und Erfahrung 
brachten die Führer ihre Soldaten in schwierige Lage und 
glaubten, zu der äußersten Maßnahme greifen zu sollen: 
Zum Schießen. Das Feuer dauerte zehn Sekunden. 
Höchstens hundertftinfzig Schüsse wurden abgegeben. 
Schwere Maschinengewehre wurden dabei nicht benutzt. 
Welches das Ergebnis dieser zehn Sekunden war, haben 
wir bereits gesagt. Es bleibt nur noch hinzuzufügen, daß 
sich unter den-Opfern geachtete Bürger befanden, die n"r 
infolge ihrer Neugierde in das Gedränge hineingeraten 
waren. 
Für Genf war dies eine schreckliche Lehre- Tiefste Bs- 
stürzung hatte sich aller Parteien bemächtigt. Jeder sagte: 
„Das haben wir nicht gewollt." Genf hatte seinen guten 
Ruf eingebüßt und die Folgen für die Stadt sind nicht 
vorauszusehen. 
Wird es so weit kommen, daß man in einigen Jahren 
den 9. November und die dreizehn Toten in gleicher Weise 
feiert wie heute den denkwürdigen Tag aus dem Jahre 
1602? Diese Frage taucht unwillkürlich auf. Denn man 
kann diesen traurigen Jahrestag in zwiefacher Weise be¬
	        
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