Volltext: Der geheime O. B. [301]

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gestalten. Morgen ist der große Familientag, und am 16. hoffe 
ich wieder in Paris zu sein. Dann gehe ich aber sofort zu 
Deyf. Kein Bedenken soll mich mehr abhalten. Ich muß so 
oder so eine Klärung schaffen. Mein ältester Vetter behandelte 
mich heute, als sei ich noch ein komplettes Kind, und behauptet, 
es stecke hinter meinem zerfahrenen Wesen eine Frau, welche 
aber gewiß nicht Geneviève heiße; woher er diese Kom— 
binationen hat Da er immer in Mars-la⸗Tour. lebt, kann 
doch kein Tratsch zu ihm gelangt sein. Ville-Neuve ist jetzt in 
Baumblüte und sehr schön. Es tut mir fast leid, von hier 
wegzugehen. Es sieht aus wie ein großer, großer Blumen— 
garten. der überdacht ist von Blütenbäumen, Sonne und 
Freundlichkeit. Hinzu kommt noch, daß. ich mich hier bedeutend 
freier fühle, seelisch In Paris kann ich ein unbeschreibliches 
Gefühl des Geknebeltseins in meinen Handlungen nicht los⸗ 
werden, seit Monaten. Ich bin wahrs cheinlich so hypernervös, 
daß die Stadtluft wie ein Alp auf mir liegt. 
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Paris, 18— 
19. Mai. 
Ich glaube, es sind für lange die letzten Zeilen, welche ich 
hier in dies Buch eintrage; es ist etwas so unerwartet Schreck— 
liches geschehen, daß ich kaum die Feder halten kann, so beben 
meine Finger. Geordnet werde ich meine —VV 
miedergeben können. Mir ist einmal eisig kalt wie in einem 
Grabgewölbe, dann steigen mir wieder Hitzwellen auf wie im 
schattenlosen Wüstensand. 
Ich will versuchen, Ordnung in das Chaos meiner Gefühle 
zu bringen. .. Als ich, von großer Sehnsucht getrieben, D'Nf 
kurz entfschlossen aufsuchte, fand ich Türen und Tore ihres Palais 
offen. Ich ging befremdet die breite Mittelstiege hinauf, ging den 
mir so wohlbekannten Weg, ohne von einem der Diener auf— 
gehalten zu werden, nach D'VYfs Boudoir. Auch hier die Türen in 
Angeln offen und das ganze kleine Pérsonal und Doktor Wester 
da innen versammelt. Die Herren und Damen der kleinen Suite 
hatte D'M, wie ich von Wester erfuhr, schon vor Tagen ver⸗ 
abschiedet im dem Wunsche, ganz allein zu bleiben. Als ich ein⸗ 
rat' saß Doklor Wester an D'Ms Schreibtisch und stellte einen 
Schein aus. Die Dienerschaft war in Tränen. Ich stand einige 
RMiünuten wohl wie gelähint, die Leute gleich mir wie erstarrt 
und lautlos. Nur das Rascheln der Feder Doktor Westers, er 
hbediente sich immer nur seiner eigenen Füllfeder, welche ganz 
merkwürdig breit und mit einer fast hellen, ganz rosa Tinte 
gefüllt war, zischelte durch den Raum. 
Der geheime O. B.
	        
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