Volltext: Deutschland in Ketten

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Das Parlament rafft sich zu seiner letzten Tat auf. Am 
1§. Juli wird ein sozialdemokratischer Antrag auf Auf 
hebung der vom Reichspräsidenten erlassenen Notverord 
nung mit der knappen Mehrheit von 14 Stimmen an 
genommen. Es ist ein letzter Versuch, das Rad der Ge 
schichte rückwärts zu drehen, eine letzte Anstrengung der 
Interessenten, zu retten, was von ihrer Herrschaft zu 
retten ist. wie es war, kann es nicht wiederkommen, das 
Volk erträgt das Vergangene nicht zum zweitenmal. 
Reichskanzler Brüning erhebt sich von seinem Platz und 
verliest unter lärmenden Kundgebungen das Dekret zur 
Auflösung des Reichstags. 
☆ 
Das Parlament verschwindet, das Volk atmet auf — 
in seine eigene Hand wird die Bestimmung seines Schick 
sals gelegt. 
Ein Jahrzehnt spannt seinen gewaltigen Bogen zur 
Erde, das erste Jahrzehnt nach dem furchtbarsten aller 
Kriege, den wir verloren haben. Es ist das Jahrzehnt der 
bitteren Erkenntnisse. 
wir haben zu büßen, wir werden im Innern Buße 
tun müssen für alle Sünden, die wir in diesen zehn Jahren 
reichlich begangen, wir büßen für den mörderischen 
Bruderkampf, wir büßen für die Leichtfertigkeit, mit der 
wir geglaubt habem den verlorenen Krieg durch die Rück 
gewinnung des Anscheins äußerer Gleichberechtigung, durch 
ein paar Verträge und durch schöne Worte des Friedens 
auszulöschen und abzutun, wir büßen für die Unterdrückung 
des nationalen Erwachens, wir büßen für die Schmach, die 
wir schweigend ertrugen, wir büßen, jeder für sich, für 
den Egoismus, mit dem ein jeder geglaubt hat, immer noch 
besser davonzukommen als der andere, wir büßen für 
den jämmerlichen Mißbrauch, mit dem wir das gleiche Recht 
für alle in ein Chaos ohne Ziel und Sinn verwandelt 
haben. 
wir klagen an. 
wir denken zurück, wir sehen uns verschmutzt, aus 
gehungert, mit harten Gesichtszügen, in voller Ordnung 
schweigend ostwärts über die Rheinbrücken marschieren, 
wir klagen an diejenigen, die uns daheim mit einem
	        
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