Volltext: Hermann Stegemanns Geschichte des Krieges. Erster Band. (1,1917)

Jie strategische Lage am 30. August Z03 
den Kampf noch einmal zu erneuern. Auf diese Tatsache gründete sich der 
Entschluß des Erzherzogs Friedrich, die Russen noch einmal anzugreifen. 
Es galt jedoch für diese neue allgemeine Angriffsbewegung Raum zu 
schaffen und Zeit zu gewinnen, denn sie durfte nicht auf die 3. und 2. Armee 
beschränkt bleiben, sondern mußte in Ausführung der ursprünglichen operativen 
Idee auch die Nordarmeen umfassen und zur Entscheidung heranführen. 
Gegenüber einem tatkräftigen Feind, der sich an die Fersen des ab¬ 
ziehenden Gegners heftet und ihn mit allen Waffengattungen rücksichtslos 
verfolgt, wäre ein so verwickelter Plan nicht angebracht gewesen. Wälzten 
sich die russischen Armeen, vom Sieg besiügelt, ohne Säumen hinter der 
3. Armee drein, so waren sie imstande, das XII. und III. Korps vollends 
nach Lemberg hineinzuwerfen und zwischen Brudermann und Boehm- 
Ermolli in den Rücken der Lemberger Stellung durchzustoßen. Dann wäre 
auch der Nordflügel Brudermanns gezwungen gewesen, Lals über Kopf 
nach Janow abzurücken, die dünne Verbindung zwischen dem Peltew und 
der Solokija, wo Erzherzog Josef Ferdinands schwacher Flankenschuh stand, 
wäre zerrissen und die 4. und 1. Armee in die Vernichtung hineingezogen 
worden. Aber zu so rücksichtsloser Ausnützung ihres Sieges waren die 
Russen nicht erzogen. Die Behauptung des Schlachtfeldes war ihnen 
Triumph genug, zumal da sie selbst schwer gelitten hatten. Es gibt kein Bei- 
spiel in der Kriegsgeschichte von Kunersdorf bis auf den heutigen Tag, wo sie 
diesem Verfahren gänzlich untreu geworden wären, wenn man von Suworows 
ungestümen Feldzügen absieht. Statt dem Feind mit der Übermacht zu folgen, 
begannen sie schwerfällig neu aufzumarschieren und große Verschiebungen 
vorzunehmen, um von Nordosten und Südosten gegen Lemberg vorzurücken. - 
Diese Frist kam der österreichisch-ungarischen Leeresleitung zustatten. 
Ohne Zweifel hat auch die Lage der 5. russischen Armee Plehwe, die 
sich am 30. August trotz des Erfolges ihres Zentrums in eine Niederlage 
verwickelt sah, auf die Entschlüsse der russischen Leeresleitung eingewirkt. 
Zu neuem Netzwerk spann Conrad v. Lötzendorfs erfinderischer Geist das 
strategische Garn und ließ dabei keine einzige Masche des künstlichen Gewebes 
fallen, während Lindenburg nach der Vernichtung Samsonows zum Schlage 
gegen Rennenkampf ausholte und im Westen die Aisne überschritten wurde. 
Die Wiederherstellung der strategischen Lage machte freilich einen 
schmerzlichen Verzicht notwendig: die Räumung Lembergs. Die 
Stadt war an sich nicht verteidigungsfähig und verschlang als Teilabschnitt 
eine zu starke Besatzung. Ging sie im Verlauf der neu einzuleitenden Schlacht 
verloren, so wurde nicht nur ein blutiges Schicksal über sie heraufbeschworen, 
sondern auch die Schlacht selbst auf das ungünstigste beeinflußt. Anter diesen 
Amständen war es militärisch zweckmäßig, die Truppen herauszuziehen, den 
Achsenpunkt zu verschieben und die 3. Armee rückwärts zu versammeln. Dazu 
riet auch die Verfassung der Armee Brudermann, die der Ruhe und Neu-
	        
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