Volltext: Hermann Stegemanns Geschichte des Krieges. Erster Band. (1,1917)

236 Der Feldzug in Ostpreußen bis zum 15. September 1914 
die russischen Südwestarmeen waren dem k. u. k. Nordheere ja ohnedies 
gewachsen. 
Jedenfalls war die Lage der Russen aussichtsvoll, die der Österreicher 
und Angarn noch ungeklärt, aber schon nicht mehr unbedenklich, und die 
Perspektive des Krieges eine ungeheure. Sollte man unter diesen Am¬ 
ständen Ostpreußen aufgeben und einen operativen Erfolg auf der zurückver¬ 
legten Grundlinie erwarten, wie es einem in kühler Studierstube wohlüber- 
legten Md durchgearbeiteten Plan entsprach, oder den Erfolg nach vorn 
suchen, um das Schicksal auf zwei Fronten zu zwingen? 
Es war ein schicksalsschwerer Entschluß, der sich der obersten deutschen 
Leeresleitung in diesem Augenblick aufdrängte. And gesetzt den Fall, sie 
entschied sich für das Landein nach vorn und die Verteidigung Ostpreußens 
— besaß sie dazu die erforderlichen Kräfte und brachte sie diese rechtzeitig 
in Bewegung und zur Stelle? Dazu kam, daß dieser Entschluß, dessen 
Tragweite sich angesichts der ungeklärten Perspektiven des Krieges gar 
nicht übersehen ließ, in drangvollem Augenblick und auf der Stelle gefaßt 
werden mußte. Es war um die Zeit, da das deutsche Westheer den ersten 
großen Sieg in seinen Fahnen rauschen hörte. Die Schlacht in Lothringen 
war im Gange, die Amfassungsbewegung auf der Löhe von Namur ange¬ 
langt und die Armee Kluck in Brüssel eingezogen. Zum erstenmal trat be¬ 
stimmt und bestimmend die Tatsache hervor, daß der Zweifrontenkrieg in 
seinen Operationen, auf welchem Kriegstheater sie auch vor sich gingen, eine 
strategische Einheit bildete, daß alle Erfolge und Mißerfolge im Zusammen- 
hang zu betrachten waren, ob sie in Polen oder in Belgien, in Masuren 
oder Lothringen davongetragen wurden. 
Da die deutschen Leere auf den inneren Linien standen, konnten sie 
aushilfsweise von der West- zur Ostfront bewegt werden, solange im Innern 
des Reiches keine neuen Truppen verfügbar waren. Diese Maßnahme war 
allerdings nur zulässig, wenn die Lage im Westen eine solche Schwächung 
der Kampffront gestattete. War das am 20. und 21. August der Fall und 
würde es in den folgenden Tagen der Fall sein? 
Diese Fragen wurden im Großen deutschen Lauptquartier in ihrer ganzen 
Schwere erwogen. Die Not Ostpreußens schrie um Lilfe. Der Feldzug 
war kaum eröffnet, die Stoßkraft der Russen noch nicht erprobt; die Tatsache, 
daß der Feind auf den Spuren Apraxins, Fermors und Korsakoffs in Ost¬ 
preußen einbrach und die Möglichkeit, daß er vielleicht schon in acht Tagen 
seine Gäule in der Oder tränken konnte, mußte nicht nur vom militärischen 
Standpunkt, sondern auch aus dem Gesichtswinkel des deutschen Bürgers 
und des Volkes betrachtet werden, das hinter den Fronten saß und ahnte, 
daß dieser Krieg ein Krieg um Sein oder Nichtsein war. And nicht zuletzt 
drängte sich Schliessens Leitgedanke auf, der zu fordern schien, daß das 
deutsche Wirtschaftsgebiet vom Feinde freigehalten werde. Sonst mochte
	        
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