Volltext: Hermann Stegemanns Geschichte des Krieges. Erster Band. (1,1917)

Am Elsaß-Lothringens willen 
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aufgenommen war, fühlten die Franzosen sich in gewissem Sinne verant¬ 
wortlich für das politische Wohlergehen der beiden Lande und die Elsaß- 
Lothringer sich stark von dem älteren bürgerlichen Staatswesen und seinem 
republikanischen Staatsideal angezogen. 
Trotzdem vollzog sich in Frankreich im Laufe der Jahre eine Entwicklung 
der Geister, die in einem gewissen Amfang einer ftiedlichen Neuordnung 
des Verhältnisses zu Deutschland günstig war. Je mehr sich das Schwergewicht 
im inneren politischen Leben der Republik nach links verschob, desto aus- 
sichtsvoller erschien diese Entwicklung. Die radikale bürgerliche Partei, 
die sich auf den bäuerlichen Kleinbesitz stützt, wertete den Frieden zu hoch, 
um ihn zu gefährden. Die Sozialisten hofften das Problem auf dem Wege 
zu lösen, der zur Internationale und zur Einebnung der Grenzen führte. 
Beide Parteien waren einem Kriege um Elsaß-Lothringen abhold. Ein¬ 
zelne glaubten die elsaß-lothringische Frage durch die Forderung der Auto¬ 
nomie für die Reichslande erledigen zu können, niemand aber verzichtete 
darauf, einen so oder anders gefaßten politischen Anspruch auf die ehemaligen 
Ostdepartements in Gedanken, in Wort oder Schrift geltend zu machen (2). 
Die Aussicht, Elsaß-Lothringen wieder zu erwerben, hat Frankreichs 
äußere Politik bis auf den Tag des Kriegsbeginns beherrscht und zum 
mindesten von einem Ausgleich mit Deutschland abgehalten. „Elle attend“ 
steht unter dem schönen, sanft pathetischen Bilde einer Elsässerin, das 
1. I. Lenner kurz nach dem Deutsch-Französischen Kriege als Symbol 
gemalt hat. In Wirklichkeit hat, mit Ausnahme einer dünnen Schicht groß- 
bürgerlicher Kreise, nicht das Elsaß, sondern Frankreich bis auf den 
2. August 1914 gewartet und dem Lande, das schon sein eigenes politi- 
sches Leben zu leben begonnen hatte, das Bild der Vergangenheit unter- 
geschoben. Aber abgesehen von diesen Gefühlen und Erwägungen, die 
in Frankreich immer wieder durchbrachen, die Befreiung vom Revanche- 
ge danken nicht auflommen ließen und die Entwicklung der Geister in der 
Richtung einer Verständigung mit Deutschland stets aufs neue hemmten, 
bat in Paris zweifellos auch eine starke Besorgnis vor einem Angriffskrieg 
Deutschlands und einer deutschen Vorherrschaft in Europa bestanden. 
Diese Befürchtung ist durch die Tatsache, daß das Deutsche Reich seit seinem 
Bestehen keine Gelegenheit ergriff, um kriegerischem Ehrgeiz zu ffönen und 
mit dem Erwerb von Kolonialgebiet weit hinter der fortschreitenden Aus¬ 
breitung der Westmächte und Rußlands zurückblieb, in keiner Weise ent¬ 
kräftet worden.*) 
*) Der Kolonialbesitz Englands betrug im Jahre 1914 nach der Angliedemng 
Ägyptens und der Buren 29382488 Quadratkilometer mit 375526000 Einwohnern; 
der Frankreichs nach der Eroberung Madagaskars, Indochinas und der Durch¬ 
dringung von Tunis und Marokko sowie Nordwestafrtkas 12447220 Quadrat¬ 
kilometer mit 54217000 Einwohnern, der Deutschlands 2914550 Quadratkilometer 
mit 15673000 Einwohnern.
	        
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