Volltext: Die Juden und Judengemeinden Böhmens in Vergangenheit und Gegenwart I. (1 (1934) ;)

oft zugrunde, noch ehe es nach Hause gebracht wer¬ 
den konnte. Dieselben Pächter waren bei uns auch 
gezwungen, aus dem herrschaftlichen „Gewölbe66 die 
verdorbenen Heringe zu vier Kreuzer das Stück ab¬ 
zunehmen. Im J. 1770 führten die Leute bittere Klage 
darüber, als eine kaiserliche Kommission unsere Ge¬ 
gend bereiste und die Lebensverhältnisse der Bevölke¬ 
rung erhob 32). 
Das J. 1848 brachte den Juden endlich mit der Auf¬ 
hebung aller beschränkenden Gesetze die so lang ent¬ 
behrte Freiheit. Nun konnten sie endlich auch in die 
ihnen bisher verschlossenen königlichen Städte, meist 
die besten Geschäftsplätze, eindringen und Häuser 
außerhalb ihres Ghettos, in dem sie bisher in qual¬ 
voller Enge zusammengepfercht waren, erwerben, 
ebenso Grundstücke aller Art. Es dauerte wohl noch 
einige Zeit, bis man isich in die neuen Verhältnisse ein¬ 
gelebt hatte. Unterdessen war das Verkehrswesen 
bei uns durch den Bau der böhmischen Westbahn 
(Prag—Pilsen—Taus—Furth, 1862) verbessert worden 
und im J. 1876 wurde auch N. mit der Eröffnung der 
Bahnlinie Pilsen—Eisenstein an das allgemeine Ver¬ 
kehrsnetz angeschlossen. Mit der Bahnbauzeit, die un¬ 
glaublich viel Geld in unsere arme Landschaft herein¬ 
brachte, begann erst so recht der wirtschaftliche Auf¬ 
schwung unserer Heimat. Vorher war schon im Ge¬ 
folge der großen Windbrüche und der sich anschlie¬ 
ßenden, sogenannten „Borkenkäferzeit" anfangs der 
70 er J. von Liebig & Co. eine Dampfsäge und von 
Moses Bloch eine Zündhölzchenfabrik samt der Er¬ 
zeugung des benötigten Holzdrahtes in N. eingerichtet 
worden. Die Firma ging später an Herrn Diamant 
über. Da sie nur Phosphorzünder erzeugte, ging sie 
bald ein und das Gebäude brannte im Herbst 1886 
nieder. Dann errichtete die Firma Joss & Löwenstein 
(Prag) um 1885 eine Wäschefabrik in N. (Filiale, mit 
Ende 1928 aufgelassen). Herr Wilhelm Ekstein, dessen 
Frau aus der alten Neuerer Familie Fleischt-Jano- 
witzer stammte, verlegte im J. 1895 seine Schleiferei 
optischer Gläser von Wien nach N. Im J. 1902 grün¬ 
dete Herr Siegfried Bloch (nun Bernt) sein Gabel¬ 
werk, die sogenannte Eisenfabrik beim Neuerner 
Bahnhof; später, 1925, kam noch die Wäschefabrik 
Paul Stein & Söhne und 1929 die von Siegmund Ep¬ 
stein dazu. Seit jeher war der Getreidehandel nach 
Bayern (heute Josef Bloch & Söhne) von N. aus lebhaft 
betrieben worden; später kam auch, was sich in un¬ 
serer waldreichen Landschaft von selbst ergab, ein 
lebhafter Holzhandel dazu (Karl Jetter, Sägewerk 
Siegmund Bernt). 
Im Laufe des vergangenen Jhts. hatten sich die 
alten Bettfedernindustrien von A. Klaubers Sohn, dann 
Otto Fleischl den neuzeitlichen Verhältnissen ange¬ 
paßt und zu modernen Betrieben ausgestaltet. Alle 
diese Neuerner Unternehmungen haben große aus¬ 
ländische und zum Teil sogar überseeische Absatz¬ 
gebiete. Sie haben dadurch, daß sie den Geldstrom 
nach N. lenken und sehr vielen Familien Brot geben, 
sehr zum Aufschwünge unserer Stadt beigetragen; 
während andere Kleinstädte in ihrer Entwicklung 
zurückgeblieben sind, hat sich die Häuserzahl von 
1900 bis 1930 verdoppelt und seit 1860 verdreifacht. 
Rechtsverhältnisse. 
Im alten absolutistisch regierten Staate waren die 
Untertanen nur der Herrschenden wegen da und Ob¬ 
rigkeiten und Regierungen, Adel und Kaiser bemühten 
sich in jeder Weise, aus ihren Untertanen, die nur 
Objekte ihrer Ausbeutungstätigkeit waren, mög¬ 
lichst viel an Geld- und Arbeitsleistungen herauszu¬ 
pressen. Hatte das Volk der ,,armen Leute", der 
Bauern, vor allem Arbeit zu leisten, so war es die 
Rolle der Juden, der hohen Obrigkeit und zwar so¬ 
wohl dem Schutzherrn als dem Kaiser, möglichst viel 
Geld in der Form von allerlei Steuern und Zinsun- 
gen einzutragen. So bildeten die Juden einen erhebli¬ 
chen Teil des Wohlstandes ihrer Schutzherren. 
Bis zum Jahre 1850 zahlten die Juden eine eigene 
Kopfsteuer; der Landtag von 1580 beschloß, es dem 
Könige zu überlassen, die Juden, die ja seine „Kam¬ 
merknechte44 waren, nach Wohlgefallen zu taxieren. 
Eine neue Art der Besteuerung führte Maria Theresia 
durch. Sie hatte am 18. Dezember 1744 die Verweisung 
aller Juden aus Böhmen angeordnet, ohne Angabe 
von Gründen. Man hatte jedoch damals die Juden 
einer hochverräterischen Neigung zu den Feinden der 
Kaiserin; den Franzosen, Bayern und Preußen, be¬ 
schuldigt. Als dann die Kaiserin die Juden der Heeres¬ 
lieferungen halber notwendig brauchte, verlängerte sie 
ihnen am 29. Juni 1748 die Aufenthaltsbewilligung 
auf zehn Jahre; sie setzte ihnen aber die Bedingung, 
daß ihr die Juden in Böhmen, Mähren und Schlesien 
zusammen jedes Jahr 300.000 fl. als ordentliche Steuer 
entrichten sollten. Wer seinen Steueranteil schuldig 
blieb, verlor das Recht auf den Aufenthalt im Lande 
und wurde ausgewiesen. [Von der ganzen Summe fiel 
auf Böhmen ein Anteil von 205.000 fl. Eine eigene 
Kommission von Deputierten besorgte die Aufteilung 
der Steuer.] 33). 
Im J. 1781 wurde verordnet, daß bei der Verteilung 
der Steuerlast mehr Rücksicht auf den Handelsgewinn 
und den Familienstand (die Verzehrung) genommen 
werde. Das Patent vom 24. Oktober 1798 brachte wie¬ 
der ein neues Steuersystem, weil, wie es im Eingange 
dieses Patentes heißt, die böhmische Judenschaft bei 
der seit 15. Mai 1789 bestehenden Steuerpachtung die 
eingegangenen Bedingungen nicht erfüllt hätte. Es 
waren nun jährlich 216.000 fl. aufzubringen, und zwar 
durch eine Schutz- und eine Vermögenssteuer34). 
Neben den staatlichen Steuern waren aber auch 
noch Abgaben an die Obrigkeit und an die Gemeinde 
zu entrichten. Die obrigkeitlichen Schutzzinse, eine Art 
Kopfgeld des Familienhauptes, betrugen bei uns ge¬ 
wöhnlich 15 fl., für Ärmere 10 fl., für Ober- und Un- 
terneuern zusammen 260 fl.; dagegen schwankten die 
Staatssteuern oder „Kontributionen44 zwischen 2 und 
50 fl. und eine der beiden 1713 genannten Witwen 
war sogar ganz davon befreit, wie das Verzeichnis der 
Judenfamilien von 1713 zeigt, das immer auch den 
obrigkeitlichen Zins (das Kopfgeld) und den Anteil 
an der „ordentlichen44 (staatlichen) Steuer angibt. 
An die Gemeinde N. waren von den Juden¬ 
häusern Wachtgelder, Kamingelder und Grundzinse 
aufzuführen; der Grundzins betrug 7x/2 Kreuzer. Zur 
Zeit der Kriege Maria Theresias herrschten unge¬ 
mein traurige Zustände und eine unsägliche Not in 
den ländlichen wie in den städtischen Volksschichten 
und wir dürfen uns nicht wundern, wenn wir hören, daß 
damals auch die Zahlungskraft der Neuerner Juden¬ 
schaft tief darniederlag. Besonders schwer trugen 
Witwen und Waisen an der allgemeinen Not. So 
waren im J. 1747 die „Jüdin Sandlin6 ebenso wie der 
„Jud Salmel66 schon zehn Jahre, die „Jüdin Lasserin" 
IV2 und gar die „Schwarze Jüdin" im J. 1748, als sie 
endlich den jungen Salomon Simon aus N. zum 
Schwiegersohn und Schuldenablöser gewann, schon 
zwanzig Jahre mit den Gemeindeangaben im Rück¬ 
stände. 
Aber nicht nur die Gemeinde, auch die hohe 
Obrigkeit hatte zu jenen traurigen Zeiten Anlaß 
zu bitterer Klage. Die dieser zukommenden Schutzgel¬ 
der, die 1713 nur 260 fl. betragen hatten, waren bis 
Neuern 1b 
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