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IV. Deutschland
4- Gesellschaft. Trotz der energischsten Arbeit vermag die deutsche
Landwirtschaft — wie die gewaltige Iahresrechnung mit Rußland
für importiertes Getreide zeigt — das Volk seit langem nicht mehr
zu ernähren. Wenn das Land nichtsdestoweniger ohne Schwierig¬
keit seine überzähligen Millionen behält und erträgt, so erklärt sich
dies vor allem aus der industriellen Entwicklung.
Sn Wirklichkeit stoßen in dieser Gesellschaft zwei verschiedene
Welten aufeinander. Im Osten („Gstelbien") sieht man noch immer
einen feudal-agrarischen Typus mit Latifundien und auf ihnen einen
Landadel („die Junker"), die den Rern der konservativen Partei bil-
den und keinen besonderen Sinn für Expansionspolitik besitzen. Im
Westen ist der Loden reich parzelliert, aber der Schwerpunkt liegt da-
selbst in der Großindustrie, die übrigens auch im Südosten (in Schle¬
sien) und im südlichen Zentrum (in Sachsen), entsprechend der Lage
der Rohlenfelder, mächtige Stützpunkte besitzt, hier hat sich jene
großartige Fabrikproduktion entwickelt, die seit langem die Diagnose
„schlecht und billig" (von der Philadelphia-Ausstellung 1876) über-
wunden hat und statt dessen die Devise „macke in Oerman^" (Wil¬
liams 1896) als ein Siegeszeichen auf dem Welteroberungszug trägt.
Der neue Industrieadel ist natürlich stark fortschrittlich veranlagt,
interessiert sich für die Weltpolitik und ihre Rolonisations- und
Flottenbaupläne und kommt hier dem Bedürfnis der Zeit nach Aus-
wegen für die Überbevölkerung entgegen.
Zwischen diesen beiden Hauptgegensätzen bewegt sich das wirt¬
schaftliche Leben Deutschlands. Die Interessen kollidieren bei wich-
tigen Fragen, nicht bloß bei der Zoll-, sondern auch der Verkehrs¬
und der reinen Finanzpolitik (die Reichsfinanzreform 1909). 3u Le»
ginn dieses Jahrhunderts sprach man von „Deutschland am Scheide¬
wege" (Pohle 1902): Agrar- oder Industriestaat, „Volkswirtschaft"
oder „Weltwirtschaft". Die praktische Politik stumpft die Altern«-
tive ab und sucht durch Rompromisse oder Lavieren vorwärts zu
kommen, und die ökonomische Statistik zeigt unverkennbar, daß sie
ihrer Aufgabe gewachsen war. Wir sehen wieder eine Gesellschaft in