Volltext: Nach hundert Jahren

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Landen Briefe voll heißen Dankes, voll erschütternder Klagen zukamen; die 
treuen Bauern der Grafschaft Mark schrieben in ihrer natürlichen Art: „Das 
Herz wollte uns brechen, als wir Deinen Abschied lasen; so wahr wir leben, 
es ist nicht Deine SchuldI" Auch die deutschen Einwanderer in den polnischen 
Provinzen schieden schweren Herzens von. der alten Monarchie, Und wie 
furchtbar war das Land verwüstet, das dem Könige noch blieb; ein einziges 
Jahr hatte die reiche Friedensarbeit dreier Jahrzehnte vernichtet. Erst seit 
diesem Kriege nahm das häusliche Leben Norddeutschlands durchwegs den 
Charakter kahler Dürftigkeit an. Vorher hatten doch einige Zweige des Kunst¬ 
gewerbes noch in leidlicher Blüte gestanden; jetzt erst kam die Zeit der all¬ 
gemeinen Form- und Geschmacklosigkeit. Das Elend verriet sich überall: in den 
nüchternen Bauten, dem häßlichen Gerät, der knappen Kost; ängstliche Spar¬ 
samkeit bestimmte alle Gewohnheiten des Lebens. In den unglücklichen Provinzen 
lagen weite Landstriche wie ausgestorben, ganze Dorfschaften waren verschwunden; 
die Prediger mahnten von der Kanzel: wer da wolle, möge ernten, daß nur 
das Korn nicht auf dem Halm verderbe. 
Der Sieger sorgte aber auch nach dem Frieden mit peinlicher Strenge 
für die Ausplünderung des verhaßten Landes. Alle Kranken aus den Hospitälern 
in Warschau und Westfalen ließ er sofort nach Preußen schaffen; wo eines 
der Regimenter abzog, wurden zuvor alle königlichen Magazine und Vorräte 
verkauft bis herab zu den Beständen der Salzwerke und Porzellanfabriken. Keine 
Flinte, so befahl er, und kein Pulverkorn darf im Lande verbleiben, auch nicht, 
wenn die Preußen sie bar bezahlen wollen. Gegen den klaren Wortlaut des 
Tilsiter Vertrages wurde Neuschlesien sofort mit Warschau vereinigt; die Be¬ 
schwerden des Königs, hieß es kurz, seien sinnlos, keiner Widerlegung wert. 
Das Entsetzlichste blieb doch, daß mit allen diesen Opfern die Ruhe des Friedens 
noch immer nicht erkauft war. Die Räumung des Landes und der Festungen 
sollte zwar bis 1. Oktober (1807) erfolgen, doch nur, wenn zuvor die gesamte 
Kriegsschuld abgezahlt sei; da aber die Höhe dieser Summe nicht festgesetzt 
wurde, blieb nach wie vor fast das gesamte preußische Gebiet durch Napoleons 
Heer besetzt, der sich durch die preußischen Zahlungen die Mittel für den spa¬ 
nischen Krieg verschaffte. 
Am Ende dieses Abschnittes deutscher Geschichte zitieren wir noch folgende 
schöne Schlußworte aus „Treitschke, Deutsche Geschichte im 19. I a h r- 
hundert", welche lauten: 
Entwaffnet, geknebelt, verstümmelt lag die preußische Monarchie zu Na¬ 
poleons Füßen, mit vollendeter Schlauheit hatte er alles vorbereitet, um sie 
zur gelegenen Stunde gänzlich zu vernichten. Nur eines entging dem Scharf¬ 
blick des Verächters der Ideen: daß dieser Staat an innerer Einheit und sitt¬ 
licher Spannkraft gewann, was er an äußerer Macht verlor. Der ungetreuen 
Polen war er ledig; die alten deutschen Stammlande, die ihm blieben, hielten 
zusammen wie ein Mann. Von diesen Adlerlanden war einst der Siegeszug 
des großen Kurfürsten, der verwegene Versuch der neuen deutschen Staaten¬ 
bildung ausgegangen; auf ihnen lag jetzt wieder Deutschlands ganze Zukunft. 
Sie allein unter allen reindeutschen Landen blieben dem Rheinbünde fern. Vor 
der letzten Schmach der freiwilligen Knechtschaft hatte Friedrich Wilhelms ehren¬ 
hafter Sinn seine Preußen bewahrt. Die schwere Schuld der letzten Jahre war 
nicht nur gebüßt, sie war auch erkannt; noch in Tilsit entschloß sich der König 
auf Hardenbergs Rat, den Freiherrn von Stein mit der Neubildung der Ver¬ 
waltung zu beauftragen. Was nur ein starkes Volk zu verzweifelten Entschlüssen 
entflammen kann, Stolz und Haß, Schmerz und Reue gärte in tausend
	        
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