Parlament und Regierung Frankreichs 191
ferenz eine Schonung der französischen Mannschaftsbestände habe durchsetzen können.
„Wir erwarten," fährt er fort „die Antwort der Regierung. Ueberall fragt man sich:
Kann Frankreich noch jahrelang so fortfahren? So hört doch die Klagerufe, die zu
uns aus dem Hinterland, die aus den Schützengräben aufsteigen!"
Dieses Bekenntnis stürzt die Kammer in die größte Erregung. Viele Abgeordneten
der Rechten rufen: Geheimsitzung! Geheimsitzung! Der Abgeordnete Lenoir ruft:
„Unsere Toten bitten uns um Vorsicht vor der Oeffentlichkeit!" Der Antrag auf
Konstituierung zur Geheimsitzung wird sofort vorgelegt und angenommen. Die Tri
bünen wurden um 7«6 Uhr geräumt.
Um 7 Uhr wurde die öffentliche Sitzung wieder aufgenommen. Die Abgeordneten
Deguis und Mistral gaben im Namen der äußersten Linken die Erklärung ab, daß
sie gegen den Regierungsantrag stimmen werden, da die Regierung in der Geheimsitzung
die nötigen Aufklärungen nicht gegeben habe. Renaudel erklärt namens der Sozia
listen, daß seine Partei zwar für den Antrag stimme, weil es sich einstweilen nur um
die Musterung handle, daß sie sich aber die Stellungnahme zur tatsächlichen Einberufung
der Achtzehnjährigen vorbehalte. Im allgemeinen schien die Linke in der Geheimsitzung
zwar die Notwendigkeit anerkannt zu haben, die Einziehung des Jahrgangs 1918 nicht
zu verzögern, aber nicht davon überzeugt worden zu sein, daß Briand in Bezug aus
die allgemein ersehnte Verminderung der Kriegslast seine Schuldigkeit getan habe.
Daraus ergriff der sozialistische Abgeordnete Brizon das Wort zu einer leidenschaft
lichen Anklage. Die Kammer täusche das Land und spiele eine traurige Komödie. Briand
habe in Frankreich seine Monarchie des Krieges aufgerichtet und sie dem Lande auf
gezwungen, das unter dem Kriege zittere. Der Präsident unterbricht den Redner und
beantragt seine Ausschließung. Unter furchtbarem Tumult ruft Brizon, daß auch die
russische Regierung am Kriegsausbruch schuld sei. Briand hat nicht das Recht, auch
den Jahrgang 1918 in den Tod zu schicken. Der Tod unserer Achtzehnjährigen würde nicht
Frankreich dienen, nur einem der Briandschen Kriegsziele. Während der Abstimmung
über seinen Ausschluß schreit Brizon fortgesetzt in den Saal: Nieder mit dem Krieg!
Genug der Metzelei, die nur Sonderinteressen dient! Wir wollen den Sieg durch den
Frieden! Unter stetem gewaltigem Lärm beschließt die Kammer den Ausschluß Brizons
und nimmt dann die Regierungsvorlage über die Musterung des Jahrganges 1918 mit
450 gegen 38 Stimmen bei 38 Stimm-Enthaltungen an."
Zum Schluß der Sitzung gab Präsident Deschanel bekannt, daß eine weitere Geheim
sitzung am 28. November 1916 beginnen werde zur Besprechung von Interpellationen.
„Um diese innerpolitischen Vorgänge in Frankreich richtig würdigen zu können, muß
man sich," wie dem „Schwäbischen Merkur" (28. XI. 16) geschrieben wurde, „immer
wieder vergegenwärtigen, daß Briand der Vater der Saloniki-Expedition und derjenige
Staatsmann im Lager der Entente war, dem das meiste Verdienst um den Eintritt Rumä
niens in den Krieg zugemessen wurde. Als Rumänien in den Krieg eintrat, entstand in den:
äußerlichen Einflüssen besonders zugänglichen ftanzöstschen Volke das Schlagwort vom „Glück
Briands". Die rumänischen Katastrophen haben aber auch den Stern Briands zum Sinken
gebracht. Um sich zu halten, setzte er es den anderen Ententemächten gegenüber durch,
daß die Saloniki-Expedition weitergeführt wurde. Stark erschwert wurde die Stellung des
Kabinetts Briand dann auch noch durch die Affäre der englischen Petroleumkonzesstonen
in Algier. England, das von jeher darauf bedacht war, sich Petroleumquellen in der
Nähe der Meeresküste zu sichern, erreichte bei dem Minister der öffentlichen Arbeiten, dem
Sozialisten Sembat, daß einer englischen Gesellschaft die Ausnutzung der wichtigsten
Petroleumquellen Algiers überlassen worden ist. Ein ftanzöstscher Minister hat also der
englischen Admiralität die Möglichkeit geliefert, die englischen Kriegsschiffe im Mittelmeer