Volltext: Der Völkerkrieg Band 13 (13 / 1918)

2 Das Deutsche Reich während des fünften Kriegshalbjahres 
Der Kampf im Westen spielte sich weniger rasch ab. War im Osten völlig unbegründete 
Eroberungslust die treibende Kraft zum Kriege, so war es hier Sorge um das Fortbestehen 
eines Weltreichs in rein geschäftsmäßiger Auffassung. Der schwedische Historiker Kjellän 
wies in seiner Aufsehen erregenden Schrift „Großmächte der Gegenwart" schon Mitte 
1914 sehr überzeugend daraus hin, daß bei der heutigen „planetarischen" Ordnung des 
Weltverkehrs die überragende Vormachtstellung einer einzelnen politischen oder nationalen 
Gemeinschaft nicht mehr zeitgemäß sei, und die Freiheit der Meere ist seit längerm die 
aus allen Erdteilen heraus erhobene Forderung. Die deutsche auswärtige Politik ging 
darauf aus, dieses Ziel, die Beseitigung der britischen Hegemonie, auf dem Wege fried 
lichen Wettbewerbs zu erreichen, ohne Blutvergießen, wie es ihren idealen Grundsätzen 
und ihrem Anspruch auf Kultur entsprochen hätte. Es ist bezeichnend, daß der Engländer, 
der das Wort „Freiheit" fortwährend auf der Zunge hat, in seinem Sprachschatz keinen 
Ausdruck für diese „Kultur" besitzt. Also kam es auch hier zum Kulturkampf, wenn auch 
nicht in so radikaler Bedeutung des Wortes wie im Osten. 
In einer Rede, die der Erste Lord der britischen Admiralität, Balfour, in Glasgow 
hielt, hat er die Vormacht der englischen Kriegs- und Handelsflotte wie ein unumstößliches 
Naturgesetz gepriesen. Nun, er erwähnte in derselben Rede die „glänzende Führung" 
dieser Flotte durch Jellicoe, und wer für die Seeschlacht vor dem Skagerrak eine so stark 
getrübte Urteilskraft beweist, dem können natürlich noch weitere Euphemismen unterlaufen. 
Aber fast gleichzeitig äußerte James Mill, der Präsident der englischen Marineingenieur 
schule, die Verluste der britischen Handelsflotte in den letzten 2 Jahren seien so ernst 
gewesen und die Zahl der Neubauten so gering, daß es Jahre dauern werde, ehe England 
sich die Hoffnung machen könnte, dieselbe relative Stärke in bezug auf den Weltschiffsraum 
wieder zu erreichen, die es vor dem Kriege hatte. Wer horcht da nicht aus? Es ist 
eigentlich das erste Mal, daß der Niedergang des traditionellen Prestiges von einer maß 
gebenden Stelle zugestanden wird. 
Diese knappen Worte bedeuten in Wirklichkeit nichts anderes als den Einsturz des 
Riesengebäudes des britischen Seeimperiums. Und schon stehen die Geschäftsnachsolger 
vor der Tür der liquidierenden Firma, in erster Linie die emanzipierte Tochternation 
jenseits des Meeres und Japan. Gleichzeitig mit jener höchst bemerkenswerten Äuße 
rung Mills erfuhren wir bedeutsame Entschließungen der Handelskammern in Jokohama, 
die eine gewaltige maritime Erstarkung des schon lange auf der Lauer liegenden Kaiser 
reichs im fernen Osten offenbaren. Die Freiheit der Meere ist schon errungen. Die 
Idee des Weltstaates ist überlebt. England, dekadent als Staat, Nation und Gesell 
schaft, sinkt in eben diesen Tagen von seiner Weltmachtstellung zur Großmacht herab, 
und sechs, sieben andere sind ihm ebenbürtig. An dieser Tatsache wird der Ausgang des 
Krieges, welcher er sein möge, nichts ändern können: auch ein siegendes England würde 
nach Friedensschluß die Führung des Welthandels nicht mehr übernehmen. In die 
Breschen, die deutsche Unterseeboote in den Koloß an Schiffsraumgehalt geschlagen 
haben, sind längst seetüchtige Konkurrenten getreten. 
Dieses sind die deutschen Kriegsziele in Ost und West, und auf sie ziemt es, den Blick 
zu richten, diese gilt es zu erörtern. Nur wer das Rauschen der Weltgeschichte in diesen 
Tagen nicht spürt, wer für Deutschlands heilige Kulturaufgabe kein Verständnis besitzt, 
der lasse im engen Kreise seinen Sinn verengern, der verfechte einen Streifen belgischen 
Bodens oder eine russische Provinz als sein wahres Kriegsziel. Wer aber wünscht, daß 
die große Stunde keine kleinen Geister finde, der erhebe den Blick über die Zaunpfähle 
eines so begrenzten Gesichtsfeldes hinaus in die Fernen, die hinter ihnen liegen."
	        
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