2 Das Deutsche Reich während des fünften Kriegshalbjahres
Der Kampf im Westen spielte sich weniger rasch ab. War im Osten völlig unbegründete
Eroberungslust die treibende Kraft zum Kriege, so war es hier Sorge um das Fortbestehen
eines Weltreichs in rein geschäftsmäßiger Auffassung. Der schwedische Historiker Kjellän
wies in seiner Aufsehen erregenden Schrift „Großmächte der Gegenwart" schon Mitte
1914 sehr überzeugend daraus hin, daß bei der heutigen „planetarischen" Ordnung des
Weltverkehrs die überragende Vormachtstellung einer einzelnen politischen oder nationalen
Gemeinschaft nicht mehr zeitgemäß sei, und die Freiheit der Meere ist seit längerm die
aus allen Erdteilen heraus erhobene Forderung. Die deutsche auswärtige Politik ging
darauf aus, dieses Ziel, die Beseitigung der britischen Hegemonie, auf dem Wege fried
lichen Wettbewerbs zu erreichen, ohne Blutvergießen, wie es ihren idealen Grundsätzen
und ihrem Anspruch auf Kultur entsprochen hätte. Es ist bezeichnend, daß der Engländer,
der das Wort „Freiheit" fortwährend auf der Zunge hat, in seinem Sprachschatz keinen
Ausdruck für diese „Kultur" besitzt. Also kam es auch hier zum Kulturkampf, wenn auch
nicht in so radikaler Bedeutung des Wortes wie im Osten.
In einer Rede, die der Erste Lord der britischen Admiralität, Balfour, in Glasgow
hielt, hat er die Vormacht der englischen Kriegs- und Handelsflotte wie ein unumstößliches
Naturgesetz gepriesen. Nun, er erwähnte in derselben Rede die „glänzende Führung"
dieser Flotte durch Jellicoe, und wer für die Seeschlacht vor dem Skagerrak eine so stark
getrübte Urteilskraft beweist, dem können natürlich noch weitere Euphemismen unterlaufen.
Aber fast gleichzeitig äußerte James Mill, der Präsident der englischen Marineingenieur
schule, die Verluste der britischen Handelsflotte in den letzten 2 Jahren seien so ernst
gewesen und die Zahl der Neubauten so gering, daß es Jahre dauern werde, ehe England
sich die Hoffnung machen könnte, dieselbe relative Stärke in bezug auf den Weltschiffsraum
wieder zu erreichen, die es vor dem Kriege hatte. Wer horcht da nicht aus? Es ist
eigentlich das erste Mal, daß der Niedergang des traditionellen Prestiges von einer maß
gebenden Stelle zugestanden wird.
Diese knappen Worte bedeuten in Wirklichkeit nichts anderes als den Einsturz des
Riesengebäudes des britischen Seeimperiums. Und schon stehen die Geschäftsnachsolger
vor der Tür der liquidierenden Firma, in erster Linie die emanzipierte Tochternation
jenseits des Meeres und Japan. Gleichzeitig mit jener höchst bemerkenswerten Äuße
rung Mills erfuhren wir bedeutsame Entschließungen der Handelskammern in Jokohama,
die eine gewaltige maritime Erstarkung des schon lange auf der Lauer liegenden Kaiser
reichs im fernen Osten offenbaren. Die Freiheit der Meere ist schon errungen. Die
Idee des Weltstaates ist überlebt. England, dekadent als Staat, Nation und Gesell
schaft, sinkt in eben diesen Tagen von seiner Weltmachtstellung zur Großmacht herab,
und sechs, sieben andere sind ihm ebenbürtig. An dieser Tatsache wird der Ausgang des
Krieges, welcher er sein möge, nichts ändern können: auch ein siegendes England würde
nach Friedensschluß die Führung des Welthandels nicht mehr übernehmen. In die
Breschen, die deutsche Unterseeboote in den Koloß an Schiffsraumgehalt geschlagen
haben, sind längst seetüchtige Konkurrenten getreten.
Dieses sind die deutschen Kriegsziele in Ost und West, und auf sie ziemt es, den Blick
zu richten, diese gilt es zu erörtern. Nur wer das Rauschen der Weltgeschichte in diesen
Tagen nicht spürt, wer für Deutschlands heilige Kulturaufgabe kein Verständnis besitzt,
der lasse im engen Kreise seinen Sinn verengern, der verfechte einen Streifen belgischen
Bodens oder eine russische Provinz als sein wahres Kriegsziel. Wer aber wünscht, daß
die große Stunde keine kleinen Geister finde, der erhebe den Blick über die Zaunpfähle
eines so begrenzten Gesichtsfeldes hinaus in die Fernen, die hinter ihnen liegen."