Das Schicksal der sremdstämmigen Völker 257
Die russische Schreckensherrschaft in Finnland
„Stockholms Dagblad" (25. XI. 16) brachte folgenden Bericht aus Helsingfors: „Einem
zufälligen Besucher Finnlands könnte es scheinen, als gehe das Leben im Lande in ge
wohnter Weise fort, abgesehen von den Störungen durch die furchtbare Steigerung
der Lebensmittelpreise und den immer wachsenden Mangel an einer Menge von Ge
brauchswaren, in erster Linie Kleidern und Schuhwaren. Was aber der zufällige Be
sucher nicht sieht, das ist die langsam, aber stetig fortschreitende Ausplünderung der Be
völkerung durch Zwangsarbeiten für russische Befestigungszwccke und Zwangsrequisitionen
für die russische Armee, sowie der erbitterte Kampf im Stillen, den die Polizei, die
Gendarmen und das Militär Rußlands gegen alles und alle führen, die dem Verdacht
ausgesetzt werden, irgend etwas mit reich?feindlicher Propaganda zu tun zu haben.
Was die Befestigungsarbeiten anbelangt, wurden Zehntausende finnländischer
Arbeiter zwangsweise ausgehoben, um an den weitläufigen Befeftigungslinien zu arbeiten,
die das Land in verschiedenen Richtungen durchzogen. Oft geschah dies in der Weise,
daß den Kommunen einfach befohlen wurde, an einem bestimmten Tage eine gewisse An
zahl von Arbeitern zur Verfügung zu stellen und sie mit Lebensmitteln für eine be
stimmte Zeit zu versehen. Der Arbeitslohn wurde gewöhnlich in Quittungen ausbezahlt,
die nach dem Ende des Krieges einzulösen sind. Es ist schon vorgekommen, daß die
auf diese Weise zusammengebrachten Arbeiterscharen nach Rußland geschickt worden sind,
um dort verschiedene Arbeiten für militärische Zwecke auszuführen. Die Furcht vor
dieser Zwangsaushebung, die von vielen als ein Vorzeichen einer künftigen Aushebung
zum Kriegsdienst angesehen wurde, hat viele Hunderte junger Männer getrieben, aus
illegalem Wege auszuwandern.
Die Requisitionen für die Armee hatten einen geradezu verhängnisvollen Umfang
angenommen. An vielen Orten weigerten sich die Bauern, den Befehlen Folge zu
leisten, woraus die Behörden drohten, daß das Heu mit Gewalt expropriiert würde.
Noch bedrückender war die Aushebung von Pferden für das Heer. Für die Lieferungen
wurden Quittungen ausgegeben mit dem Trost, die Bezahlung erfolge, „sobald das
heilige Rußland gesiegt hat!" Eine wahre Landesplage waren die Kosakenhaufen von
100 bis 140 Mann, die das Land durchkreuzten. Ueberall mußte die Bevölkerung sie be
herbergen und beköstigen und ihren Pferden Futter geben. Eine Bezahlung kam nicht
in Frage; gewöhnlich mußten die Kommunen dafür eintreten.
Die Verhaftungen berührten zwar nicht in demselben Grade die Masse der Bevölkerung,
aber sie waren doch seit dem Sommer 1916 so häufig geworden, daß sie über das ganze Land
ein lähmendes Gefühl der Unsicherheit verbreitet hatten. Allein die Liste der im letzten
Halbjahr Verhafteten und Deportierten war schon erschreckend lang. Der sehr bekannte
und hochangesehene sozialdemokratische Führer Kemopainen in Uleaborg ist nach Ruß
land deportiert worden, eine Gewalttat, die in Arbeiterkreisen starke Erbitterung erregte.
Besonders zahlreich waren die Verhaftungen in der nördlichen Landschaft Oesterbotten,
wo viele Bauern, darunter auch Frauen, festgenommen worden sind. Tie Veranlassung
dieser Verhaftungen war in den meisten Fällen ein Rätsel. Die Gefängnisse in Finnland
und Rußland waren von verhafteten Finnländern aus allen Gesellschaftsklassen überfüllt.
Die Behandlung der Verhafteten ist äußerst brutal und muß oft als vollständige, regel
rechte Tortur bezeichnet werden. Eine der gewöhnlichsten Formen war, daß die Ver
hafteten mehrere Tage nach der Einsperrung ohne Essen gelassen wurden. Der Zweck
dieser Behandlung war natürlich, die Delinquenten körperlich so zu schwächen, daß sie
beim Verhör keinen geistigen Widerstand leisten konnten.
Aber man beschränkte sich nicht auf Verhaftungen und Deportationen. Auch mehrere
Fälle von Hinrichtungen sind vorgekommen. Zu bemerken ist, daß die Todesstrafe für
Mll-rlri-g. XX. 17