Rußland während des fünften Kriegshalbjahres
Auch die erste Sitzung des Reichsrates am 14. November 1916 ging nicht ohne Zwischen
fall ab. Nach der Eröffnungsansprache des Präsidenten Golubew, in der er betonte,
alle Gedanken und alle Anstrengungen der Nation müßten sich auf die nationale Ver
teidigung richten, kam es zu einer scharfen Polemik zwischen dem früheren Justizminister
Schtscheglowitow und dem Vertreter Polens Schebeko. Ersterer äußerte sich, daß die
, Zukunft Polens im russischen Schoße liege. Das polnische Volk müsse sich ins russische wie
ein Strom ins Meer ergießen. Schebeko antwortete daraus, daß eine derartige Anschau
ung das polnische Volk vom slawischen Wege abbringen müsse. Ein Ausgehen des pol
nischen Volkes in dem russischen sei gleichbedeutend mit seinem Untergange. Diese Auf
fassung wäre nicht geeignet, die Herzen der Polen für Rußland zu gewinnen. Schtscheglo-
witows Entschuldigung, daß seine Worte nur für die Dauer des Krieges gemeint seien,
verhallten, ohne den unangenehmen Eindruck verwischen zu können.
Darauf gab der Minister des Innern Protopopow am Schluß der Sitzung im Namen
der Regierung eine Erklärung zu den über die Polenfrage gehaltenen Reden ab. Die
Regierung bleibe jetzt wie früher unverändert aus der Grundlage des Aufrufes des
Generalissimus (vgl. H, S. 73) und der 1915 vom ehemaligen Ministerpräsidenten Gore-
mpkin gehaltenen Rede (vgl. IX, S. 212 u. XIII, S. 236).
Die innere Politik und Personalien I
Bis zum Sturze des Ministerpräsidenten Stürmer
» tftjy Von August bis 23. November 1916
Nach amtlichen Meldungen und ergänzenden Mitteilungen
4. August 1916.
Der am 4. August an Stelle des Anfang Juli 1916 zurückgetretenen Naumow (vgl. XVI, S. 298)
zum Ackerbauminister ernannte Graf Bo brinfkij (vgl. XVI, S.294) hatte offenbar vor der Ueber
nahme des Landwirtschaftsministeriums die Bedingung gestellt, daß ihm die Machtbefugnisse des
früheren Landwirtschaftsministers Naumow in Lebensmittelangelegenheiten zuerkannt werden. Bo-
brinskij erklärte darauf dem Fürsten Obolenski (vgl. XVI, S. 292), dem Leiter des Amtes zum Kamps
gegen die Teuerung, er hoffe, Obolenski werde sich, obwohl er selbständig sei, in LebenSmittel-
angelegenheiten nach den Wünschen und Anweisungen des Landwirtschaftsministeriums richten.
5. August 1916.
Der Ministerpräsident Stürmer (vgl. XIII, S.249 u.f.), der am 23. Juli 1916 als Nachfolger von
Ssasonow auch zum Minister des Auswärtigen ernannt worden war (vgl. XVI, S. 292), ließ durch
das Preffebureau des Ministeriums des Aeußern allen Petersburger Zeitungen mitteilen, er beab
sichtige, das Ministerium des Aeußern gänzlich umzugestalten, damit es, wenn auch nach europäischem
Muster arbeitend, doch dem Geiste nach russisch bleibe. „Rußkoje Slowo" meldete, Stürmer habe
die eigentliche Leitung der Geschäfte des Ministeriums des Aeußern noch nicht übernommen. Die
Geschäfte würden von dem bisherigen Gehilfen Neratow erledigt, der auch die üblichen wöchentlichen
Beratungen mit den Botschaftern der verbündeten Länder abgehalten habe. Sofort nach der ersten
dieser Besprechungen sei der englische Botschafter B u ch a n a n nach Finnland abgereist, was das Gerücht
entstehen ließ, daß Buchanan mit der von Neratow im Namen Stürmers angekündigten neuen Rich
tung in der russischen äußeren Politik unzufrieden sei.
Die Ansichten über die politischen Absichten Stürmers waren sehr verschieden. So wurde einer
seits der „Kölnischen Zeitung" (13. VIII. 16) auS Kopenhagen folgendes geschrieben: „Die fortschritt
lichen Kreise der ReichSduma, die dem Wunsche Englands gemäß für die Fortsetzung deS Krieges
unter allen Umständen sind, verfolgen die Tätigkeit Stürmers mit größter Beunruhigung. Sie be
fürchten, daß Stürmer mit der Verabschiedung von Ssasonow und der Berufung ihm ergebener Persön
lichkeiten, wie Maklakow, Schtscheglowitow, die obendrein von früher her als Anhänger eines bal
digen Friedens mit Deutschland bekannt sind, sowie mit der eigenen Uebernahme des Ministeriums
des Aeußern allmählich die Hindernisse für die Anbahnung eines Sonderfriedens mit Deutschland
beseitigen wolle. Niemals während des Krieges ist in echtrussischen Presseorganen vom Schlage der