Zusammenfassende Darstellung
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Stellungen vorzudringen, sonst wurden sie überall unter großen blutigen Verlusten zu
rückgeworfen, wobei sie 1300 Gefangene in deutschen Händen ließen, während fie selbst
nur 800 Gefangene gemacht haben wollen. Wenn auf russischer Seite diesem kleinen
Teilerfolg deshalb eine größere Bedeutung beigemessen wird, weil die Russen mehr Ge
schütze, Minenwerser und Material erbeuteten als die Deutschen, so übersteht man, daß
diese Material in vorderster Linie bis zuletzt einzusetzen pflegen, um kostbarere Menschen
leben zu sparen, wogegen die Russen ihre Geschütze weit hinter der Front aufstellen,
um ihre Massen anrennen zu lassen und ihnen die Hauptarbeit zuzuweisen.
Da Mitau nur wenige Kilometer hinter den deutschen Linien liegt, so wäre ein an sich
geringer Raumgewinn der Russen beträchtlich hinsichtlich seiner Auswirkung gewesen; aber
der Vorstoß Dimitriews entbehrte der nachhaltigen Kraft und kam zum Stehen. Er hatte
sich überlebt, als die deutschen Abschnittsreserven einschwenken und den vorgetriebenen
Keil abquetschen konnten. Gleichwohl blieben zunächst erbitterte Kämpfe im Gang; ja
der Abfluß deutscher Kräfte nach der Tirulfront wurde benutzt, um bei Smorgon anzu
greifen und so einen konzentrischen Vorstoß der russischen Nordgruppe in der Richtung
Mitau—Wilna vorzutragen. Während aber den Russen bei Riga ein Anfangserfolg be-
schieden war, liefen sie bei Smorgon vergeblich an und bezahlten den Angriff mit starken
Verlusten. Und auch vor Riga stellten die Deutschen Ende Januar 1917 die Lage
wieder her, ja engten die russische Brückenkopfstellung derart ein, daß die russische
Heeresleitung nur durch die Heranziehung starker Reserven ein Abdrängen ihrer Truppen
über die Dünen ins Meer verhindern konnte. Auf russischer Seite trat in den Kämpfen
bei Riga besonders das aus Letten gebildete Korps hervor, dessen Truppen über genaue
Ortskenntnis verfügten, was gerade hier in dem unübersichtlichen Sumpfgelände von
höchstem Wert war. Gleichwohl erlitten selbst die lettischen Regimenter derartige Ver
luste, daß ihre Auffüllung nötig wurde. Auch die anderen russischen Truppenteile sind
schwer mitgenommen worden, einzelne derart, daß sie nicht mehr kampffähig waren.
Zum Brennpunkt der russischen Front im Süden wurde von nun an Dorna-Watra,
wo ihre von Norden nach Süden verlaufende Linie eine südöstliche Richtung einschlug»
Gestützt auf ihre Basis in Kimpolung, versuchten die Russen hier Raum zu gewinnen,
um die nach der ungarischen Tiefebene führenden wichtigen Straßen in ihren Besitz zu
bringen. Die einzelnen Kämpfe, die sich dabei abspielten, haben verschiedene Namen,
lassen sich jedoch in die Sammelbezeichnung „Kämpfe an der Goldenen Bistritz* zu
sammenfassen. Was die dort den Ansturm des Feindes abwehrenden Truppen ge
leistet haben, findet seine volle Würdigung erst, wenn man die Witterungsverhältniffe,
die auf jenem Teil des Kriegsschauplatzes herrschen, in Rechnung stellt; denn Frost,
Schnee und Schneestürme wechseln dort miteinander ab und erschweren jede Kampfhandlung.
Auch die russische Offensive vom Ende Januar 1917 im Südabschnitt der Bukowina
front, die in den österreichisch-ungarischen Meldungen nur als abgeschlagene Angriffe
bezeichnet wird und sich ohne Zweifel wieder gegen den Borgopaß und die Scharte der
Goldenen Bistritz richtete, hat keines ihrer Operationsziele erreicht, sondern ist zwischen
Kimpolung und Jacobeny stecken geblieben.
Trotz des ungeheueren Verbrauchs von technischen Mitteln und von Munition und
trotz aller, in die Hunderttausend« gehenden Opfer von Menschen, die die russische Führung
in all diesen Operationen so wenig schonte wie jemals zuvor, konnte sie weder Kowel noch
Lemberg erreichen, noch ihre anderen strategischen Gedanken verwirklichen. General
Brusstlow gewann einen nicht allzu tiefen Streifen wolhynischen Bodens zurück, der im
Vergleich zum Gesamtumfang des deutsch-österrelchisch-ungarischen Okkupationsgebietes
in Polen, Litauen und Kurland von verschwindender Bedeutung ist. Außerdem erweiterte
er die russische Besetzung Ostgaliziens und gewann den größten Teil der Bukowina